Der
Walzer, die Symphonie und ein Märchen
Es war einmal, und ist doch noch gar nicht
so lange her, da träumte ein kleiner Junge einen Traum. Gerade einmal 12
Jahre war er alt und es hatte ihn erwischt. Nicht nur ein bisschen - nein,
er war völlig aus dem Häuschen. Was war geschehen? Nun, der Junge hatte
nichts weiter gemacht, als ein Rockkonzert zu besuchen. Klar: nicht
irgendein x-beliebiges Phonzahlen-Massaker angloamerikanischer Knödler und
Saitenquäler. Die Hagener Band „Grobschnitt“ war es gewesen. Was aber hatte
nun diesen Traum in dem Jungen erweckt? War es die powervolle Stimme des
wildschweinigen Frontmannes, das virtuose Gefrickel des Leadgitarristen oder
prügelte der Trommler einen Rhythmus, wo jeder mit muss? Oder… oder… oder…?
Das alles gefiel dem Jungen, sicher - aber
seine Liebe gehörte nicht nur der Musik. In einer Zeit, da die Kids sich
einen Blockbuster nach dem anderen im örtlichen Kino reinzogen, träumte
dieser Bursche von so was Zeitlosem wie Theater. Und, wie ja alle landauf
und -ab wissen: „Grobschnitt“ waren und sind nicht nur für ihre filigrane
Handwerksarbeit in Sachen Rock berühmt-berüchtigt, sondern auch für ihre
aufregenden Shows. Licht, Rauch, Feuer und Kostüme beschworen jene
unvergleichliche Magie herauf, die die Fans der Gruppe bis heute lieben.
Poesie und Klamauk gaben sich die Hand, Comedy traf Fantasy und alles in
allem war und ist das eben eines: ein Paradebeispiel in Sachen Musiktheater.
Die Jahre gingen ins Land und
„Grobschnitt“ kehrten der Bühne den Rücken. Sie hinterließen eine klaffende
Wunde in der deutschen Rockszene. Alle Versuche anderer Musiker, das Erbe
der sauerländischen Frohnaturen anzutreten, schlugen fehl. Es gab keine
Medizin, die Wunde heilte nicht.
Viele Jahre gingen ins Land, doch unser
Junge träumte seinen Traum weiter: einmal „Grobschnitt“ mit großem Orchester
in einer echten Theaterproduktion auftreten zu lassen… das wär’s! Und so
träumte er seinen ganz eigenen „Grobschnitt“-Traum. Aber er war nicht der
einzige - viele Fans der legendären Kultband hatten ihre eigenen Gespinste
von mitreißender Musik, farbenfrohem Spektakel und jenem einzigartigen
Feeling, für das es eben nur einen Namen gibt: „Grobschnitt!“
Im Jahr 2007 schließlich trat die „Next
Generation“ auf den Plan und das Imperium schlug endlich wieder zu: Die
Söhne der Ex-Stars Willi Wildschwein und Milla Kapolke machten den einstigen
Rockgrößen klar: diese Musik ist viel zu großartig, um nicht mehr live
gespielt zu werden. Um die alten Hasen Toni Moff Mollo (voc, lightshow),
Rolf Möller (drums), Willi Wildschwein (voc, git) und Milla Kapolke (voc, bg)
formierten sich Tastenmann Tatti Tattva (keys), sein Sohn Demian Hache (drums,
percussion), Willis Junior, Stefan „Nuki“ Danielak (git, voc) und Millas
Nachwuchs Manu (git, voc).
Eine beispiellose Erfolgsgeschichte nahm
ihren Lauf - die alten Fans kamen wieder, neue und junge Anhänger pilgern
aus allen Ecken und Enden der Republik, aber auch aus England, Holland,
Argentinien, der Türkei, aus Kanada und weiteren Ecken und Enden des Globus
zu den Konzerten der neuen Formation.
Der Junge ist mittlerweile Chefregisseur
der Oper am Stadttheater Hagen geworden. Als er nun in der heimischen
Stadthalle die alte Lieblingsband wieder live erleben konnte, war ihm eins
klar: es gab nur eine Möglichkeit, für das 100jährige Jubiläum des
Stadttheaters etwas wirklich Einzigartiges zu schaffen: seinen alten Traum.
Der Kontakt zur Band wurde hergestellt und bald konnte bekannt gegeben
werden: „Grobschnitt“ würden ihr Rockmärchen „Rockpommel’s Land“ als
Theaterinszenierung mit großem Orchester aufführen.
Über ein Jahr lang fieberten die Fans der
Gruppe diesem Ereignis entgegen, die Erwartungslatte war immens hoch: würden
„Grobschnitt“ hinüber kommen oder wären sie lieber darunter abgetaucht? Denn
natürlich gab und gibt es bei einem solchen Unterfangen immer auch
Skeptiker: allzu oft ist das Experiment „Rockband meets Orchestra“ kläglich
in blubberndem Geigensumpf ersoffen.
Als nun am 03.06.2012 endlich die Tore des
Theaters geöffnet wurden, war die Spannung im Saal greifbar. Nach einer
kurzen Ansage enterte erst mal nur das Orchester die Bühne und spielte einen
Walzer. Na, eigentlich DEN Walzer: „Geschichten aus dem Wienerwald“. Dieses
Kabinettstückchen hatte in den vergangenen Jahren im Vorprogramm der
Konzerte das baldige Eröffnen des Gigs angekündigt - aber eben nur vom Band.
Es nun live zu hören, und zu wissen: gleich kommen die Musiker unseres
Herzens dazu, ließ schon einen kleinen Kloß im Hals entstehen.
Es hatte sich ausgewalzert und
„Grobschnitt“ wurden erwartet - aber zunächst legte das Philharmonische
Orchester Hagen mit brachialer Gewalt los - und, wem sich bei diesen Klängen
nicht vor Entzücken die Nackenhaare sträubten, der ist wahrscheinlich schon
kompostiert: die Tonfolge dürfte jedem Fan der Hagener Rockzauberer mehr als
nur vertraut gewesen sein - aber so hatte man sie einfach noch nicht gehört:
„Symphony“, das Vorzeigestückchen aus dem allerersten Album. Die Band kommt
hinzu und die Aufführung dieses (leicht gerafften) Monumentalepos versprüht
soviel Energie und Aufbruchsstimmung, dass man meinen könnte, hier stünden
Newcomer auf der Bühne, die alles dransetzten, Megastars zu werden. Willi
setzte mit seinem Scatgesang Akzente voller Feeling und Power und die Band
tat es ihm nach: ungebremste Spielfreude donnerte da von der Bühne und die
Klassikfraktion zeigte den Rockern nachhaltig, dass auch sie weiß, was ein
Brett ist!
Die erste Hälfte de Abends strotzte nur so
von neuen Ideen - längst aus dem Liverepertoire verschwundene Songs wurden
entstaubt und reaktiviert, teilweise in „unplugged“-Manier neu definiert:
„Traum und Wirklichkeit“ aus dem „Jumbo“-Album oder „Drummer’s Dream“ aus
„Ballermann“ gehörten dazu. Die aktuellen Bearbeitungen klingen frisch und
luftig - dass diese Songs einfach zeitlos sind, wird hier aufs Beste
demonstriert. Kleine Patzerchen am Rande? Klar - aber gegen Premierenfieber
hilft eben nicht mal Solar-Müsli!
Schließlich ist das Orchester wieder mal
alleine dran und spielt eine gar liebliche Melodei. Moment, mal - was’n das?
Mendelssohn, der Oldy mit dem Barth? Nö! Moussorgsky? Hmmmm - neeee!
Debussy? Keine Ahnung, jedenfalls fließt dem Zuhörer ein Soundtrack zu einem
stillen Film in die Gehörgänge und ergreift Kopf und Sinne. Und da ist es:
das Wiedererkennen: „Silent Movie“, das zarte Instrumental aus dem ansonsten
eher ruppigen „Illegal“-Album ist es, was Streicher und Bläser hier höchst
gefühlvoll zelebrieren. Sollte das als Single veröffentlicht werden, gibt’s
mal wieder Klassik in den Charts, so viel ist gewiss - und „Elias
Grobschnitt“ wird in die Weihen der Großen des Komponistenolymp aufgeführt
werden.
Das noch von der „Next-Party“-Tour bestens
in Erinnerung gebliebene Medley für Gesang, Laminat- und Holzgitarren
entzückt, vor allem das knifflige „Waldeslied“ zeigt, wie viel Liebe diese
Rockmusiker auch der akustischen Gitarre entgegenbringen - Manus kurzer
Gastauftritt an der Triangel war dem Publikum sogar einen augenzwinkernden
Szenenapplaus wert.
Der erste Set endet mit „Film im Kopf“ -
und auch hier zeigt sich, wie fantastisch das Zusammenspiel von Rockband und
Orchester klingen kann. Pause - und man hat sie auch nötig. Wie gesagt, die
Erwartungen waren sehr hoch gesteckt und bereits im ersten Set wurden sie
locker übertroffen. Das wollte erst mal verarbeitet werden.
Der nun folgende Hauptteil des Abends, die
Aufführung von „Rockpommel’s Land“ war fast schon unerträglich schön.
„Unerträglich“ nicht im Sinne von Schmalz und Kitsch - aber, wenn mein Herz
sich an diesem Abend wegen Überfüllung geschlossen hätte - ich wäre nicht
verwundert gewesen. Der Arrangeur Andres Reukauf hatte alle Register gezogen
- das Orchester war weit mehr als nur wuchtiger Background für eine
gewöhnliche Rockkomposition. Vielmehr hatte man die innere Wunderfertigkeit
der ursprünglichen Stücke herausgearbeitet. Und selbst als Fan, der ich das
Original schon x-fach gehört habe, musste feststellen, dass die volle Pracht
dieses Musikmärchens nun erst zu voller Blüte kam. So, als hätte ein ohnehin
edel gewandeter Schmetterling sich ein zweites Mal entpuppt und flöge nun
als unbeschreibliches Lichtwesen am Himmel. Sorry… das is’ hier ja
eigentlich ‚ne Rezi, aber das übliche Kritikervokabular reicht für diesen
Abend nicht aus.
Die Ouvertüre war nun wirklich wie die
einer klassischen Oper gestrickt und ein Schauspieler schlüpfte in die Rolle
von Mr. Glee, um die Geschichte vom kleinen Ernie zu erzählen. Dieser reist
mit einem Zaubervogel, dem liebenswerten Marabu, nach „Rockpommel’s Land“.
dort befreit man die von den monströsen „Blackshirts“ inhaftierten Kinder.
Die evokativen Kompositionen werden mit
Theatereffekten umgesetzt: die düstere Stadt „Severity Town“ wird von über
die Bühne bretternden Autos symbolisiert, die Steinmonster des Fabellandes
trotten in Persona durch den Raum und Marabu himself schwebt von der
Theaterdecke herab… dazu eine poetische Lichtelegie sondergleichen und viel
Nebel.
Wie sehr die Band ihre Fans schätzt, war
auch an einem besonders schönen Detail spürbar: beim letzten Konzert der
vorangegangenen Tour hatten die Fans beim Auftauchen von Ernie in der Show
sich rote Mützen übergestreift - ebenso, wie der Märchenheld eben auch eine
trägt… an just dieser Stelle der Show zogen sich nun alle
Orchestermitglieder inklusive des Dirigenten diese modischen Accessoires
über!
Das ohnehin schon tränentreibende Finale
des märchenhaften Rockopus wurde durch die philharmonische Unterstützung zum
absoluten Tear-Jerker.
Die nun folgenden „standing ovations“
waren mehr als verdient. Der Theatersaal tobte und sowohl die Band als auch
das Orchester wurden gebührend gefeiert. Zugaben? Klar - es war schließlich
ein mehr als nur schöner Tag und so durfte der legendäre „Vater Schmidt“
keinesfalls fehlen. Und zum Abschluss schließlich das stille, intime „Beyond“,
das bislang noch nie live aufgeführt worden war… der Applaus wollte nicht
enden, selbst dann nicht, als klar war: nun is’ wirklich Schluss.
Andere Künstler muss man oft ewig lang zu
einer mickrigen Zugabe bitten - bei „Grobschnitt“ wird einfach nicht
gegangen, da muss man niemand lange bitten und die klatschenden Zuschauer
schenken den Musikern ihres Herzens eine eigene Zugabe: und so wurde auch
hier wieder einmal „Oooo, wie ist das schön…“ intoniert. Zu Recht!
Ist es nicht wunderbar, wenn Träume in
Erfüllung gehen? In diesem Falle ein hundertfacher Hattric: der Regisseur
hat sich einen Jugendtraum erfüllt - und gleichzeitig noch die von mehreren
hundert Menschen. Kann es was schöneres geben? Bleibt nur zu hoffen, dass es
für diese Bahnbrechende Produktion nach 4 Aufführungen nicht endgültig
„Vorhang fällt!“ heißt! Dazu ist das Werk viel zu großartig.
Und selbst, wenn dereinst der letzte
Vorhang gefallen ist, sollte das Ganze für die Nachwelt erhalten bleiben -
sonst glauben uns unsere Nachfahren ja niemals, dass es so was jemals
gegeben hat - wenn schon nicht den Himmel auf Erden, dann doch ein
leibhaftiges Märchen inmitten unserer Realität!
Günter Klößinger, Juni 2012 |