Interview mit Marcus Heider von Love God Chaos
Per Email im Dezember 2023 geführt

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Aus Österreich stammt die Band Love God Chaos, die aktuell aus Marcus „John Krempl“ Heider (Gesang, Gitarre, Sounds), Markus Kertz (Gitarre, Gesang), Michael Mautner (Bass) und Felix Kappler (Schlagzeug) besteht. Ihre Musik lässt sich nicht wirklich in eine Kategorie einstufen, denn sie vermischen Liedermacher, Rock, Pop mit unter anderem einer leichten Punkattitüde. In 2022 ist ihr viertes Album „Wir leuchten im Dunkeln“ erschienen. Für ihren Song „Helsinki Anal“ haben sie gerade ein neues Video auf youtube eingestellt. Ein Grund mal etwas mehr über die sympathischen Österreicher zu erfahren. Aus diesem Grund nahm Stephan Schelle Kontakt zu Marcus Heider auf.


Marcus Heider aka John Krempl

Im Jahr 2014 habt ihr euer Debütalbum „Wo das Meer am tiefsten ist“ auf den Markt gebracht.  Erzähl doch bitte seit wann es Love God Chaos gibt und was ihr vor Bandgründung im Musikbereich gemacht habt.

Love God Chaos hat sich aus der Vorgängerband „Spuk“ herausgeschält. Mit Spuk, einer räudigen und breitbeinigen Rockband, die in der Ferne „Selig“ erahnen ließ, wurden zwei CDs veröffentlicht, die Band brach auseinander, eine Zwangspause von zwei Jahren war die Folge und mit neuen Musikern wurde 2010 ein Neustart gewagt. 2012 war dann klar, dass man musikalisch dem Spuk-Korsett entwachsen war. Die Musik klang anders, auf altes Spuk-Material haben wir gar nicht zurückgegriffen, also musste auch ein neuer Name gefunden werden. Ich, Marcus, darf hier für die Band antworten und bin Songschreiber, Texter und Mastermind von Love God Chaos. Eine Rolle, die ich annehmen muss und auch gerne annehme. Es ist allerdings weit entfernt von einem Soloprojekt. Das würde tatsächlich deutlich langweiliger klingen, wenn das nur mein eigenes Ding wäre. Ich bringe zwar die Songs, bin aber dann doch immer wieder aufs Neue erstaunt, was daraus wird. Oft genug sitze ich dann mit dem fertigen Album da und wundere mich, was da entstanden ist. Wir sind als Band eine Bruderschaft, eine Bande. Wir hecken gemeinsam Sachen aus und ich bin ihr Anführer.

Love God Chaos ist ja schon ein sehr ungewöhnlicher Name. Wie seid ihr drauf gekommen und was bedeutet er für euch?

Love God Chaos war eine Art Eingebung, die sich aufgedrängt hat, als wir über unsere Musik nachgedacht haben. Die Songs wurden breiter und epischer, irgendwie wirkte alles größer. „Love“ steht für ein großes Gefühl, „God“ für eine große Idee und und „Chaos“ für einen großen Zustand. Das hat sich gut angefühlt und ganz gut zusammengefasst, wie und wer wir sein und wie wir klingen wollten.

Am 16.04.2023 seid ihr beim Artrockfestival in Reichenbach aufgetreten. Eure Musik würde ich nicht unbedingt als Artrock bezeichnen. Wie kam es zu eurem Auftritt dort?

Irgendwann haben wir gemerkt, dass man uns das Etikett „Artrock“ so lange nachgeworfen hat, dass es irgendwann ganz gut kleben geblieben ist. Wir hätten uns selbst nicht als Artrockband bezeichnet, dafür haben wir viel zu viel Achtung vor dem Genre. Wir wissen, dass manche unserer Songs die Artrockschublade durchaus einfordern, manche andere aber auch nicht. Das ist uns durchaus recht, wir wollen beweglich und neugierig bleiben. Gründe die für den Artrock sprechen, sind einige sehr lange, epische Songs und natürlich der Einsatz des Streichorchesters auf unseren Aufnahmen. Wir merken, dass wir uns dem Artrock – oder zumindest dem, was wir darunter verstehen – immer mehr annähern. Mittlerweile haben wir einige ausufernde Songs und lieben das auch. Nach Reichenbach wurden wir wegen unseres „Commander“-Videos eingeladen. „Commander“ ist so ein episches treibendes Orchesterstück, das gut in den Artrockfestivalkontext passt, deshalb hab ich Uwe, der das Festival organisiert, den Videolink geschickt. Nach der Fertigstellung des vierten Albums habe ich Uwe auch noch das Master von „Ich komme von der Sonne“ zukommen lassen. Daraufhin hat er sich gemeldet und meinte kurz und knapp„Ich find das gut, was ihr macht, ihr seid dabei“.

   
Live beim Artrockfestival in Reichenbach (16.04.2023)

Die Resonanz auf den Gig in Reichenbach war sehr gut. Hat euch das überrascht, da ihr ja in dieser Szene nicht gerade bekannt gewesen seid?

Wir waren extrem überrascht, wie angenehm, kompetent und neugierig die Community vor Ort ist. Es war für uns eine fantastische Erfahrung und eine große Chance. Wir hoffen auch, dass sich ein weiterer Auftritt mit dem nächsten Album ergibt. Man kannte uns nicht, das ist schon richtig. Jetzt kennt man uns besser. In Österreich würden wir sagen: Ihr werdet uns schon noch kennen lernen! :) Wir waren völlig überwältigt von der Offenheit, dem Interesse und der Freundlichkeit der Menschen. Das ist einzigartig.

Wie würdet ihr euren Musikstil selbst beschreiben?

Wir fühlen uns wie gesagt mit dem Artrock-Label mittlerweile ganz wohl. „Schublade“ wollen wir das nicht nennen, das klingt immer so negativ, wir sehen das eher als Auszeichnung. Wir sehen uns mittlerweile als Alternative-Art-Rock-Band. Mal mehr in die eine, mal mehr in die andere Richtung. Der Bezug zur „Art“, die dem „Rock“ voran steht, kommt auch von den Texten. Man vergisst das gerne, dass die Texte Teil des Ganzen sind und unbedingt dazugehören. Auch da sind unsere Ansprüche recht hoch und wir denken, dass die Texte auch eine klare Identität haben und speziell sind.

Welche musikalischen Idole habt ihr und wie fließen diese in eure Musik ein?

Irgendwann haben wir gemerkt, dass wir einen eigenen Sound haben, dass es also etwas gibt, was uns zu uns macht. Seitdem interessiert uns nicht mehr, wie irgendwer anders klingen zu wollen. Wir sind alle sehr unterschiedliche Typen mit unterschiedlichen musikalischen Backgrounds. Mike, unser Bassist, kommt aus der Hardcore-Szene, Felix, unser Schlagzeuger, interessiert sich genauso für schrägen Metal, wie für Prog oder fein ziselierten Pop, Markus und ich, die beiden Gitarristen, fühlen uns im Indierock und -pop zu Hause. Jeder hat also so seine eigenen Wurzeln. Wir sind neugierig genug, uns für die Wurzeln des anderen zu interessieren. Wenn das alles zusammenfließt, ergibt sich unsere spezielle Mischung. Über uns kreisen auf einer Metaebene wahrscheinlich Radiohead, Elbow, King Crimson, The Beatles, Motorpsycho, Peter Gabriel, Leprous, The Doors, die Filmemacher Wes Anderson, Buster Keaton, die deutschen Musiker Rio Reiser, Gisbert zu Knyphausen und vor allem die Einstürzenden Neubauten, die Autoren David Mitchell, Thomas Bernhard und Gabriel Garcia Marquez und noch einige mehr, die mir jetzt partout nicht einfallen wollen. Ja, auch Filmemacher und Autoren sind dabei. Das alles hat seinen Einfluss was Ästhetik und Haltung angeht.

Ihr habt mittlerweile vier Alben herausgebracht. Was als erstes auffällt, das sind die grandiosen Cover, die ja schon richtige Kunstwerke sind. Wer macht die bzw. seid ihr an der Gestaltung beteiligt?

 
Wo das Meer am tiefsten ist (2014) und Die Unmöglichkeit des Nichtscheiterns (2017)

 
Endling (2019) und Wir leuchten im Dunkeln (2022)

Danke für das Lob, die Coverarbeit ist grundsätzlich von mir (also Marcus). Ich war in einem früheren Leben Grafiker und fotografiere auch sehr gerne. Dementsprechend haben es mir konzeptionelle Überlegungen angetan und Inszenierungen. Das letzte Coverbild ist zusammengesampelt aus 40 Einzelfotos und Photoshopebenen. Die einzelnen Elemente des „Monsters“ habe ich mit meiner Frau, die ich über die Fotografie kennengelernt habe, bei uns daheim fotografiert, dann ging es darum, die einzelnen Elemente freizustellen und zusammenzubauen. Das „Aussenfoto“ ist bei einem Schrottplatz in Graz entstanden. Für das Cover von „Endling“ habe ich mit Gipskartonplatten, die ich auf Ikea-Regale geschraubt habe, einen eigenen Raum in unserer Tiefgarage gebaut, weil ich keinen geeigneten bereits vorhandenen Raum gefunden habe, der mich angesprochen hätte. Mike, unser Bassist, musste als Model herhalten, er hat die Maske getragen, die ich gebastelt habe. Es steckt tatsächlich viel Arbeit und Liebe hinter den einzelnen Cover-Bildern. Ich bin sehr dankbar, dass das wahrgenommen und gewürdigt wird, das ist nicht selbstverständlich. Meine Frau ist übrigens das schwebende Model auf unserem zweiten Album „Die Unmöglichkeit des Nichtscheiterns“.

Gerade habt ihr mit „Helsinki Anal“ ein neues Video auf youtube veröffentlicht. Das sprüht mal wieder vor Witz. Wer kommt auf diese teils skurrilen und lustigen Ideen?

Auch dafür bin letztlich ich verantwortlich. Es hat einfach mit meinem Background als Grafiker, Fotograf und Theatermusiker zu tun. Da ergibt sich dann eine Berührungsebene zu Dramaturgie, Inszenierung und konzeptionellen Ideen. Die Ideen zu „Helsinki Anal“ entstanden assoziativ, wie auch der Songtitel, der nach einem Blick auf ein Kreuzworträtsel entstand. Es waren gerade mal zwei Felder darauf ausgefüllt, „Hauptstadt von Finnland“ und „zum Rektum gehörend“. Ich habe – wie oben erwähnt – eine Leidenschaft für Buster Keaton. Er war ein sehr konzentrierter und ernsthafter Arbeiter, über die Marx Brothers meinte er zum Beispiel etwas abfällig „Sie nehmen den Humor nicht ernst genug“. Ich war sehr überrascht als ich gelesen habe, dass mein anderer Held Wes Anderson, der meiner Meinung nach einen großartigen Blick für Seltsames und Kurioses und eine formale Strenge, oder besser Klarheit hat, ebenfalls Buster Keaton-Fan ist. Grundsätzlich machen wir es so: Wenn es eine Idee für ein Video gibt, machen wir es. Es gibt also Songs, die ein Video brauchen würden, aber die wir nicht machen, weil sich keine Idee aufdrängt. Wenn es keine Idee gibt, machen wir es nicht. Reine „Wir-stellen-uns-mit-den-Instrumenten-in-die-Landschaft-und-bewegen-die-Lippen“-Videos langweilen uns. Das würden wir nicht machen wollen.

Ist das nicht ein großer Aufwand solche Videos zu produzieren? Wie ist die Resonanz darauf und macht sich das im Absatz eurer wirklich guten Alben bemerkbar?

Der Aufwand ist in der Tat (schrecklich) groß. Ich habe gestern, am 22.12.2023 den letzten Take für „Laika“ mit meiner Frau gedreht. Ein Video, an dem wir seit 6 Jahren arbeiten. Seit gut 6 Jahren steht in unserem Keller eine Halbröhre, die einen Raumschiff-Innenraum darstellt, in dem wir gedreht haben. Manches dauert einfach lang, wir arbeiten aber auch nicht jeden Tag daran. Manchmal ist wochen- oder monatelang Pause. Wir haben ja alle Familien und Brotjobs. Aber wir wollen es auch gut machen und eine für uns gute Idee nicht verschenken. Im Falle von „Helsinki Anal“ war die Arbeit unglaublich riskant. Es war nicht klar, was die finnische Band da abliefern wird, aber sie haben das großartig gemacht.

Ich hol mal etwas aus: Felix, unser Schlagzeuger, hat bei einer Probe erzählt, dass man im slowenischen Ljubljana 3D-gedruckte Figuren von sich selbst machen kann. Eine gute Gelegenheit für einen Bandausflug also. Wir machen sowas ganz gerne. Dann haben wir uns ergoogelt, dass man das auch in Graz machen kann. Der ganze Spaß hat uns rund EUR 1.400,-- für die Figuren gekostet. Wir haben gleich zwei komplette Sätze herstellen lassen, weil nicht klar war, was die finnische Band da abliefert. Für uns eine ganz schön große Summe. Die Suche nach einer Band aus Helsinki war sehr mühsam, ich hab auf meine Anfragen einfach keine Antworten erhalten. Geklappt hat es dann, als ich eine Metalband gefragt habe. Janne von DÖ hat geantwortet und schrieb: „That sounds like a crazy idea, but you are lucky, we're into crazy stuff!“. Ich habe ihnen nur kurz umrissen, worum es gehen soll, ein paar technische Grundvoraussetzungen mitgeteilt, wie die Bitte, das im Querformat zu filmen, das meiste blieb offen. Sie sollten die Figuren so einsetzen, dass möglichst sie selbst und ein prominenter Platz in Helsinki zu sehen ist, damit das ganze unverwechselbar als Helsinki zu identifizieren ist.

Dann hab ich ein großes Paket mit Süßigkeiten und ein paar Flaschen Schnaps geschickt, damit die Finnen Freude dran haben. Ein paar Wochen später bekam ich das Paket vom Zoll zurück, ohne den Alkohol, aber immerhin mit den Figuren. Also hab ich es nochmals geschickt, wieder ein paar Wochen gewartet, nachgefragt, bin vertröstet worden und habe dann nach einem halben Jahr auf meine Nachfrage hin von Janne einen Downloadlink für die Videofiles erhalten. Die Files, die Janne hochgeladen hatte, habe ich runtergeladen, bei zwei oder drei Files kurz reingesehen und kontrolliert, ob das Format passt. Ich habe sie gebeten, die Figuren zurückzuschicken, Janne meinte, das muss warten, „das stinkt sehr, da wird der Zoll aufmerksam“. Seltsam natürlich. Ein paar Wochen später kam dann das kleine Päckchen, das auch im Video zu sehen ist. Wir haben es tatsächlich erst beim Videodreh geöffnet und staunten nicht schlecht. Beim Schneiden hab ich mir dann alles durchgesehen und bin aus dem Lachen nicht mehr herausgekommen. Wie gesagt, ein teures und verrücktes Experiment, das tatsächlich gut gegangen ist. Das Video erzählt praktisch seine eigene Entstehungsgeschichte auf überspitzte Art und Weise. Ich habe das deshalb so genau erzählt, weil ich finde, dass die Videogeschichte dafür steht, wie das Wesen der Band ist. So denken wir, so arbeiten wir. So sind wir.

Die Resonanz auf die Videos ist generell gut. Sie transportieren einfach die Musik. Ohne Videos hätten wir deutlich weniger Hörer*innen. Auf den Absatz der Alben macht sich das allerdings wenig bemerkbar. Wir verkaufen hauptsächlich Alben bei unseren Konzerten.

Auf den Alben findet man teils verklausulierte Texte die oft sehr poetisch, intellektuell und von Wortspielereien durchzogen sind. Es sind aber fast immer Geschichten aus dem Leben. Wie kommt ihr auf diese Themen?

Den meisten Menschen sind Texte mal vorrangig egal. Das ist zumindest unsere Erfahrung. Uns selbst sind sie wichtig. Und natürlich muss ich als Texter irgendwo anknüpfen und das geht nun mal am Besten, wenn das eigene Leben und Erleben der Bezugspunkt ist. Ab dann heben die Texte allerdings ab. Ich mag es, wenn es im realen Leben einen Ausgangspunkt gibt, aber ich mag es auch, wenn es dann eine andere poetische und oft genug absurde und wunderliche Wirklichkeit gibt. Ein Protagonist, der immer wieder vorkommt, ist Johnny, mein Song gewordener Stellvertreter quasi.

Ich habe mir angewöhnt, meine Ideen aufzuschreiben. Ich habe ein „schlaues Buch“ dafür, oder nehme mein Handy. Oft sind es nur einzelne Wörter, manchmal ganze Sätze. Die stoßen dann eine Geschichte an. Grob gesagt: Der Kern ist immer wahr, alles darum herum ist Fiktion. Das mag ich gerne und werde es auch so beibehalten. Wenn es nur um mein Leben ginge, müsste ich keine Songs schreiben, sondern würde ein Tagebuch schreiben. Es braucht schon auch eine künstlerische Überhöhung, denke ich. Mittlerweile hab ich schön öfter gehört, dass ich eine eigene Sprache in meinen Texten gefunden habe. Das finde ich sehr schön, dass das für manche etwas Eigenes und Unverwechselbares hat. Im Optimalfall folge ich beim Texte schreiben meinem „Stream of Consciousness“, so wie das Kerouac bei „On the Road“ gelang, oder Bob Dylan beim Verfassen seiner Texte. Dieser Bewusstseinsstrom bringt Dinge hervor, die sich normalem Nachdenken oder Brüten über einer Sache entziehen. So entstanden zum Beispiel „Commander“, „Eskalation, bitte“ oder auch „Ich komme von der Sonne.“ Oder einfacher gesagt: Wenns läuft, dann läufts.

Ihr bezieht aber auch sehr deutlich Stellung in Songs wie „Sie sind nicht mein Präsident“, bei dem Herr Trump sein Fett bekommt.

Es bekommen da viele ihr Fett ab. Demagogen und Populisten gibt es ja zahlreich. Vorbild dafür war die Bande um Kickls FPÖ, eine rechtsradikale österreichische Partei. Aus unserer Sicht eine Partei der Neinsager und Krakeeler. Auslöser war die Angst, dass der FPÖ-Kandidat bei der letzten Bundespräsidentenwahl die meisten Stimmen bekommt. Die Wahl musste ja bekanntlich wiederholt werden und wurde recht knapp entschieden. Das wäre nicht mein Präsident gewesen. Aber natürlich braucht dieser Text wie andere auch etwas Allgemeingültiges, um relevant zu bleiben. Ich befürchte ja, dass er noch länger relevant sein wird.

Aber auch sehr humorvolle Texte durchziehen eure Songs wie etwa in „Grüße aus der Gruft“. Wieviel bedeutet euch Humor in die Songs mit einzubinden?

Humor ist uns extrem wichtig. Ich habe oben ja die Bruderschaft angesprochen. Das trifft es ganz gut. Wir mögen uns und lachen auch viel. Und ich denke, dass man vor allem auch in den Videos sieht, dass wir sehr uneitel sind und gerne über uns selbst lachen. Das relativiert dann auch manchen ernsten Text. In dem Song „Grüße aus der Gruft“ geht es um einen betrunkenen Fahrer, der bei einem Unfall das Zeitliche segnet. Es singt also die Leiche den Song. Und die Leiche hat offensichtlich nicht verstanden, dass sie tot ist und meckert herum, dass es nur ein paar kleine Kratzer sind und gar nicht so betrunken war. Ja, das hat schon was Absurdes und Komisches. Aber im Refrain schwingt auch das Tragische und Fatalistische mit. „Wie schnell die Party zu Ende geht“ heißt es da und wir kennen wahrscheinlich alle einen lieben Menschen um uns, der zu früh verstorben ist. Das ist bitter und dem stellen wir uns.

Wie entstehen die Songs im Allgemeinen? Ist zuerst der Text oder ein Thema da, oder kommt zunächst jemand mit einer musikalischen Idee, die dann weiterentwickelt wird?

Es beginnt eigentlich fast immer mit einer musikalischen Idee, die ich ausbrüte. Oft genug singe ich einen Nonsens-Text darüber, der mal das Metrum und die Silben definiert. Und schön langsam fülle ich das dann mit Text. Manchmal geht das ganz schnell, an manchen Sachen feile ich ewig, manchmal sogar Jahre. Das gilt sowohl für die Musik als auch den Text. Ich habe mir angewöhnt, die musikalischen Einfälle mit der akustischen Gitarre auf meinem Zoom-Gerät aufzunehmen. Das höre ich zwei- bis dreimal im Jahr ab und arbeite dann Sachen aus. Auf meinem Handy halte ich Sätze fest, die mir begegnen oder gerade durch den Kopf schießen. Auch da schaue ich immer wieder mal rein und lasse mich inspirieren oder verwende etwas davon. Letztens hatte ich ein musikalisches Thema und wusste nicht, worum es gehen soll. Beim Durchscrollen meiner Notizen bin ich auf den Eintrag „Muss das so laut sein“ gestoßen. Eine Frage, die ja Tontechniker hinter dem Mischpult oft hören. Und da dachte ich mir, „Das ist es, so heißt der neue Song“. Der Text schrieb sich danach von allein. Aber ich habe natürlich keine Ahnung mehr, warum und wann ich diesen Eintrag aufgeschrieben habe. Es steht da und wird zu etwas, oder nicht.

In den Songtexten kommt oft der Name Johnny vor wie zum Beispiel in den Songs „Johnny bleib“, „Schüttel dein Ding“ oder „Johnny und Clyde“ (letzteres ist ja ein gelungenes Wortspiel zu „Bonnie und Clyde“). Welchen Bezug hat das zu deiner Person?

Natürlich steckt ganz viel Johnny in mir, und ich stecke in Johnny. Johnny muss auch immer wieder herhalten, wenn jemand in den Texten benannt wird. Aber ich bin natürlich nicht Johnny. Johnny streift an mir an und ich bleibe haften an ihm. Johnny kommt auf jedem Album drei bis viermal vor. Manchmal schon im Titel, manchmal nur kurz erwähnt im Text. Johnny ist eine Konstante im Love God Chaos-Universum und wahrscheinlich so universell wir „John Doe“ wenn die Amerikaner eine Leiche benennen müssen. Nach all den Jahren hat sich Johnny oft genug als draufgängerischer, alberner und liebenswerter Macho-Schlawiner herausgestellt. Ich bin nicht so, hoffe und denke ich. Aber ja, wenn ich auf mein jüngeres Ich blicke, dann schüttle ich schon oft den Kopf und denke mir, dass das typisch Johnny ist. So ist „Johnny bleib“ und „Du bist gut für mein Karma“ entstanden. Johnny ist also auch der, den ich ganz gerne hinter mir lasse. Wie schon oben gesagt. Es beginnt bei mir selbst, hebt irgendwann ins Fantastische ab und muss auch etwas Allgemeingültiges kriegen. Wenn es nur bei mir bliebe, brauchte ich für die Texte nicht den Rock'n'Roll, sondern einen Beichtstuhl.

Mit Songs wie „Du bist gut für mein Karma“, „Ich komme von der Sonne“, „Eskalation, bitte“ und „Commander“ habt ihr einige Songs mit Hitpotenzial im Repertoire. Seht ihr das genauso?

Wir spüren, dass wir mit „Commander“ eine Art Signatur-Song veröffentlicht haben. Es ist ein Lied über Emanzipation. Es geht darum, selbst Verantwortung über sein Leben zu übernehmen und sich selbst in seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit, die uns allen eigen ist, zu akzeptieren. „Ich komme von der Sonne“ ist ähnlich populär, aber die Liebe zu dem Song ist letztlich genau so überraschend wie bei „Commander“. Es sind immerhin unsere längsten und komplexesten Songs. Wir legen es nicht darauf an, Hits zu schreiben. So etwas macht man, wenn man dringend muss, oder noch sehr jung ist. Es interessiert uns nicht. Wir legen es darauf an, uns selbst möglichst nahe zu kommen. Dann wird das Ergebnis meistens gut. Darum geht es uns. Vielleicht ist das auch spürbar. Aber von einem wirklichen Hit sind wir natürlich meilenweit entfernt. Weil du es erwähnt hast: „Du bist gut für mein Karma“ ist - denke ich - griffig und nachvollziehbar und „Eskalation, bitte“ ist eine Art Glaubensbekenntnis für uns. So sehen wir uns, das ist quasi unser Dogma.

     
Live beim Artrockfestival in Reichenbach (16.04.2023)

Wie erfolgreich seid ihr in eurem Heimatland bzw. im deutschsprachigen Raum? Ich muss gestehen, dass ihr mir vor eurem Auftritt unbekannt wart und ich doch sehr positiv überrascht war.

Uns kennt keine Sau, da gibt es nichts zu beschönigen. Unsere Videos haben allerdings ganz gute Zugriffe. Für uns ist ein Song erst mit einem Video vollständig abgeschlossen und auf jeder Ebene auserzählt, deshalb machen wir das gerne. Wir hätten nur mit CD-Verkäufen oder Spotify-Streamingzahlen niemals die Reichweite, die wir haben, wenn wir ein Video zu einem Song machen. Aber wie gesagt: Für das Formatradio sind wir nicht geeignet, wir erkämpfen uns quasi jeden einzelnen Zuhörer und jede einzelne Zuhörerin. Wenn man sich uns einmal genähert hat, folgt man uns allerdings auch gerne.

Wie sehen eure Zukunftspläne aus? Seid ihr schon wieder dabei ein neues Album einzuspielen?

Wir werden Ende Januar mit den Aufnahmen für das fünfte Album „Augendisko“ beginnen. Bei uns laufen viele Dinge parallel ab. Wir drehen noch Videos für Songs der Alben zwei und drei, promoten nach wie vor das Album vier, nehmen bald Album fünf auf und ich schreibe erste Songs für das Album sechs. Wichtig für uns ist, dass wir unseren Wagen in Bewegung halten. Solange er sich bewegt, braucht es nur ein paar Schubser, damit es weitergeht, aber wehe, wenn er still steht. Das erforderte deutlich mehr Mühen, ihn wieder in Gang zu setzen. Deshalb sind wir in einem permanenten Schaffensmodus und die einzelnen Alben, Promotiontätigkeiten und Videos verzahnen sich. Wir würden gerne mehr Live spielen, keine Frage. Also meldet euch gerne, wenn es einen Klub bei euch in der Nähe gibt, wir kommen!

Auf unser nächstes Album freuen wir uns. Wir werden Dinge, die sich bewährt haben, beibehalten. Es wird wieder ein Duett geben, wir laden musikalische Gäste ein und arbeiten auch wieder mit dem Prager Streichorchester. Aber es wird auch für uns neue Wege geben auf dem nächsten Album. Auch hier gibt es Bewegung und neue Entwicklungen. Ein langer Song, ein „Monster“ wie wir das gerne nennen, wird wieder dabei sein. Dann werden wir wohl auch unserem Ruf als Artrock-Band wieder gerecht. Spätestens 2025 soll es fertig sein. Und wenn wir Glück haben, dürfen wir vielleicht sogar wieder beim Art-Rock-Festival in Reichenbach spielen.

Vielen Dank, dass du mir meine Fragen so ausführlich beantwortet hast.

Danke für die Einladung und liebe Grüße aus Graz!

Stephan Schelle

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