Aus
Österreich stammt die Band Love God Chaos, die aktuell aus Marcus
„John Krempl“ Heider (Gesang, Gitarre, Sounds), Markus Kertz
(Gitarre, Gesang), Michael Mautner (Bass) und Felix Kappler (Schlagzeug)
besteht. Ihre Musik lässt sich nicht wirklich in eine Kategorie
einstufen, denn sie vermischen Liedermacher, Rock, Pop mit unter anderem
einer leichten Punkattitüde. In 2022 ist ihr viertes Album „Wir
leuchten im Dunkeln“ erschienen. Für ihren Song „Helsinki Anal“
haben sie gerade ein neues Video auf youtube eingestellt. Ein Grund mal
etwas mehr über die sympathischen Österreicher zu erfahren. Aus diesem
Grund nahm Stephan Schelle Kontakt zu Marcus Heider auf.
Marcus Heider aka John Krempl
Im
Jahr 2014 habt ihr euer Debütalbum „Wo das Meer am tiefsten ist“
auf den Markt gebracht. Erzähl
doch bitte seit wann es Love God Chaos gibt und was ihr vor Bandgründung
im Musikbereich gemacht habt.
Love God Chaos hat sich
aus der Vorgängerband „Spuk“ herausgeschält. Mit Spuk, einer räudigen
und breitbeinigen Rockband, die in der Ferne „Selig“ erahnen ließ,
wurden zwei CDs veröffentlicht, die Band brach auseinander, eine
Zwangspause von zwei Jahren war die Folge und mit neuen Musikern wurde
2010 ein Neustart gewagt. 2012 war dann klar, dass man musikalisch dem
Spuk-Korsett entwachsen war. Die Musik klang anders, auf altes
Spuk-Material haben wir gar nicht zurückgegriffen, also musste auch ein
neuer Name gefunden werden. Ich, Marcus, darf hier für die Band
antworten und bin Songschreiber, Texter und Mastermind von Love God
Chaos. Eine Rolle, die ich annehmen muss und auch gerne annehme. Es ist
allerdings weit entfernt von einem Soloprojekt. Das würde tatsächlich
deutlich langweiliger klingen, wenn das nur mein eigenes Ding wäre. Ich
bringe zwar die Songs, bin aber dann doch immer wieder aufs Neue
erstaunt, was daraus wird. Oft genug sitze ich dann mit dem fertigen
Album da und wundere mich, was da entstanden ist. Wir sind als Band eine
Bruderschaft, eine Bande. Wir hecken gemeinsam Sachen aus und ich bin
ihr Anführer.
Love
God Chaos ist ja schon ein sehr ungewöhnlicher Name. Wie seid ihr drauf
gekommen und was bedeutet er für euch?
Love God Chaos war eine
Art Eingebung, die sich aufgedrängt hat, als wir über unsere Musik
nachgedacht haben. Die Songs wurden breiter und epischer, irgendwie
wirkte alles größer. „Love“ steht für ein großes Gefühl,
„God“ für eine große Idee und und „Chaos“ für einen großen
Zustand. Das hat sich gut angefühlt und ganz gut zusammengefasst, wie
und wer wir sein und wie wir klingen wollten.
Am
16.04.2023 seid ihr beim Artrockfestival in Reichenbach aufgetreten.
Eure Musik würde ich nicht unbedingt als Artrock bezeichnen. Wie kam es
zu eurem Auftritt dort?
Irgendwann haben wir
gemerkt, dass man uns das Etikett „Artrock“ so lange nachgeworfen
hat, dass es irgendwann ganz gut kleben geblieben ist. Wir hätten uns
selbst nicht als Artrockband bezeichnet, dafür haben wir viel zu viel
Achtung vor dem Genre. Wir wissen, dass manche unserer Songs die
Artrockschublade durchaus einfordern, manche andere aber auch nicht. Das
ist uns durchaus recht, wir wollen beweglich und neugierig bleiben. Gründe
die für den Artrock sprechen, sind einige sehr lange, epische Songs und
natürlich der Einsatz des Streichorchesters auf unseren Aufnahmen. Wir
merken, dass wir uns dem Artrock – oder zumindest dem, was wir
darunter verstehen – immer mehr annähern. Mittlerweile haben wir
einige ausufernde Songs und lieben das auch. Nach Reichenbach wurden wir
wegen unseres „Commander“-Videos eingeladen. „Commander“ ist so
ein episches treibendes Orchesterstück, das gut in den
Artrockfestivalkontext passt, deshalb hab ich Uwe, der das Festival
organisiert, den Videolink geschickt. Nach der Fertigstellung des
vierten Albums habe ich Uwe auch noch das Master von „Ich komme von
der Sonne“ zukommen lassen. Daraufhin hat er sich gemeldet und meinte
kurz und knapp„Ich find das gut, was ihr macht, ihr seid dabei“.
Live beim
Artrockfestival in Reichenbach (16.04.2023)
Die
Resonanz auf den Gig in Reichenbach war sehr gut. Hat euch das überrascht,
da ihr ja in dieser Szene nicht gerade bekannt gewesen seid?
Wir waren extrem überrascht,
wie angenehm, kompetent und neugierig die Community vor Ort ist. Es war
für uns eine fantastische Erfahrung und eine große Chance. Wir hoffen
auch, dass sich ein weiterer Auftritt mit dem nächsten Album ergibt.
Man kannte uns nicht, das ist schon richtig. Jetzt kennt man uns besser.
In Österreich würden wir sagen: Ihr werdet uns schon noch kennen
lernen! :) Wir waren völlig überwältigt von der Offenheit, dem
Interesse und der Freundlichkeit der Menschen. Das ist einzigartig.
Wie
würdet ihr euren Musikstil selbst beschreiben?
Wir fühlen uns wie
gesagt mit dem Artrock-Label mittlerweile ganz wohl. „Schublade“
wollen wir das nicht nennen, das klingt immer so negativ, wir sehen das
eher als Auszeichnung. Wir sehen uns mittlerweile als
Alternative-Art-Rock-Band. Mal mehr in die eine, mal mehr in die andere
Richtung. Der Bezug zur „Art“, die dem „Rock“ voran steht, kommt
auch von den Texten. Man vergisst das gerne, dass die Texte Teil des
Ganzen sind und unbedingt dazugehören. Auch da sind unsere Ansprüche
recht hoch und wir denken, dass die Texte auch eine klare Identität
haben und speziell sind.
Welche
musikalischen Idole habt ihr und wie fließen diese in eure Musik ein?
Irgendwann haben wir
gemerkt, dass wir einen eigenen Sound haben, dass es also etwas gibt,
was uns zu uns macht. Seitdem interessiert uns nicht mehr, wie irgendwer
anders klingen zu wollen. Wir sind alle sehr unterschiedliche Typen mit
unterschiedlichen musikalischen Backgrounds. Mike, unser Bassist, kommt
aus der Hardcore-Szene, Felix, unser Schlagzeuger, interessiert sich
genauso für schrägen Metal, wie für Prog oder fein ziselierten Pop,
Markus und ich, die beiden Gitarristen, fühlen uns im Indierock und
-pop zu Hause. Jeder hat also so seine eigenen Wurzeln. Wir sind
neugierig genug, uns für die Wurzeln des anderen zu interessieren. Wenn
das alles zusammenfließt, ergibt sich unsere spezielle Mischung. Über
uns kreisen auf einer Metaebene wahrscheinlich Radiohead, Elbow, King
Crimson, The Beatles, Motorpsycho, Peter Gabriel, Leprous, The Doors,
die Filmemacher Wes Anderson, Buster Keaton, die deutschen Musiker Rio
Reiser, Gisbert zu Knyphausen und vor allem die Einstürzenden
Neubauten, die Autoren David Mitchell, Thomas Bernhard und Gabriel
Garcia Marquez und noch einige mehr, die mir jetzt partout nicht
einfallen wollen. Ja, auch Filmemacher und Autoren sind dabei. Das alles
hat seinen Einfluss was Ästhetik und Haltung angeht.
Ihr
habt mittlerweile vier Alben herausgebracht. Was als erstes auffällt,
das sind die grandiosen Cover, die ja schon richtige Kunstwerke sind.
Wer macht die bzw. seid ihr an der Gestaltung beteiligt?
Wo
das Meer am tiefsten ist (2014) und Die Unmöglichkeit des
Nichtscheiterns (2017)
Endling
(2019) und Wir leuchten im Dunkeln (2022)
Danke für das Lob, die
Coverarbeit ist grundsätzlich von mir (also Marcus). Ich war in einem
früheren Leben Grafiker und fotografiere auch sehr gerne.
Dementsprechend haben es mir konzeptionelle Überlegungen angetan und
Inszenierungen. Das letzte Coverbild ist zusammengesampelt aus 40
Einzelfotos und Photoshopebenen. Die einzelnen Elemente des
„Monsters“ habe ich mit meiner Frau, die ich über die Fotografie
kennengelernt habe, bei uns daheim fotografiert, dann ging es darum, die
einzelnen Elemente freizustellen und zusammenzubauen. Das
„Aussenfoto“ ist bei einem Schrottplatz in Graz entstanden. Für das
Cover von „Endling“ habe ich mit Gipskartonplatten, die ich auf
Ikea-Regale geschraubt habe, einen eigenen Raum in unserer Tiefgarage
gebaut, weil ich keinen geeigneten bereits vorhandenen Raum gefunden
habe, der mich angesprochen hätte. Mike, unser Bassist, musste als
Model herhalten, er hat die Maske getragen, die ich gebastelt habe. Es
steckt tatsächlich viel Arbeit und Liebe hinter den einzelnen
Cover-Bildern. Ich bin sehr dankbar, dass das wahrgenommen und gewürdigt
wird, das ist nicht selbstverständlich. Meine Frau ist übrigens das
schwebende Model auf unserem zweiten Album „Die Unmöglichkeit des
Nichtscheiterns“.
Gerade
habt ihr mit „Helsinki Anal“ ein neues Video auf youtube veröffentlicht.
Das sprüht mal wieder vor Witz. Wer kommt auf diese teils skurrilen und
lustigen Ideen?
Auch dafür bin
letztlich ich verantwortlich. Es hat einfach mit meinem Background als
Grafiker, Fotograf und Theatermusiker zu tun. Da ergibt sich dann eine
Berührungsebene zu Dramaturgie, Inszenierung und konzeptionellen Ideen.
Die Ideen zu „Helsinki Anal“ entstanden assoziativ, wie auch der
Songtitel, der nach einem Blick auf ein Kreuzworträtsel entstand. Es
waren gerade mal zwei Felder darauf ausgefüllt, „Hauptstadt von
Finnland“ und „zum Rektum gehörend“. Ich habe – wie oben erwähnt
– eine Leidenschaft für Buster Keaton. Er war ein sehr konzentrierter
und ernsthafter Arbeiter, über die Marx Brothers meinte er zum Beispiel
etwas abfällig „Sie nehmen den Humor nicht ernst genug“. Ich war
sehr überrascht als ich gelesen habe, dass mein anderer Held Wes
Anderson, der meiner Meinung nach einen großartigen Blick für
Seltsames und Kurioses und eine formale Strenge, oder besser Klarheit
hat, ebenfalls Buster Keaton-Fan ist. Grundsätzlich machen wir es so:
Wenn es eine Idee für ein Video gibt, machen wir es. Es gibt also
Songs, die ein Video brauchen würden, aber die wir nicht machen, weil
sich keine Idee aufdrängt. Wenn es keine Idee gibt, machen wir es
nicht. Reine
„Wir-stellen-uns-mit-den-Instrumenten-in-die-Landschaft-und-bewegen-die-Lippen“-Videos
langweilen uns. Das würden wir nicht machen wollen.
Ist
das nicht ein großer Aufwand solche Videos zu produzieren? Wie ist die
Resonanz darauf und macht sich das im Absatz eurer wirklich guten Alben
bemerkbar?
Der Aufwand ist in der
Tat (schrecklich) groß. Ich habe gestern, am 22.12.2023 den letzten
Take für „Laika“ mit meiner Frau gedreht. Ein Video, an dem wir
seit 6 Jahren arbeiten. Seit gut 6 Jahren steht in unserem Keller eine
Halbröhre, die einen Raumschiff-Innenraum darstellt, in dem wir gedreht
haben. Manches dauert einfach lang, wir arbeiten aber auch nicht jeden
Tag daran. Manchmal ist wochen- oder monatelang Pause. Wir haben ja alle
Familien und Brotjobs. Aber wir wollen es auch gut machen und eine für
uns gute Idee nicht verschenken. Im Falle von „Helsinki Anal“ war
die Arbeit unglaublich riskant. Es war nicht klar, was die finnische
Band da abliefern wird, aber sie haben das großartig gemacht.
Ich hol mal etwas aus:
Felix, unser Schlagzeuger, hat bei einer Probe erzählt, dass man im
slowenischen Ljubljana 3D-gedruckte Figuren von sich selbst machen kann.
Eine gute Gelegenheit für einen Bandausflug also. Wir machen sowas ganz
gerne. Dann haben wir uns ergoogelt, dass man das auch in Graz machen
kann. Der ganze Spaß hat uns rund EUR 1.400,-- für die Figuren
gekostet. Wir haben gleich zwei komplette Sätze herstellen lassen, weil
nicht klar war, was die finnische Band da abliefert. Für uns eine ganz
schön große Summe. Die Suche nach einer Band aus Helsinki war sehr mühsam,
ich hab auf meine Anfragen einfach keine Antworten erhalten. Geklappt
hat es dann, als ich eine Metalband gefragt habe. Janne von DÖ hat geantwortet und schrieb: „That
sounds like a crazy idea, but you are lucky, we're into crazy stuff!“.
Ich
habe ihnen nur kurz umrissen, worum es gehen soll, ein paar technische
Grundvoraussetzungen mitgeteilt, wie die Bitte, das im Querformat zu
filmen, das meiste blieb offen. Sie sollten die Figuren so einsetzen,
dass möglichst sie selbst und ein prominenter Platz in Helsinki zu
sehen ist, damit das ganze unverwechselbar als Helsinki zu
identifizieren ist.
Dann hab ich ein großes
Paket mit Süßigkeiten und ein paar Flaschen Schnaps geschickt, damit
die Finnen Freude dran haben. Ein paar Wochen später bekam ich das
Paket vom Zoll zurück, ohne den Alkohol, aber immerhin mit den Figuren.
Also hab ich es nochmals geschickt, wieder ein paar Wochen gewartet,
nachgefragt, bin vertröstet worden und habe dann nach einem halben Jahr
auf meine Nachfrage hin von Janne einen Downloadlink für die Videofiles
erhalten. Die Files, die Janne hochgeladen hatte, habe ich
runtergeladen, bei zwei oder drei Files kurz reingesehen und
kontrolliert, ob das Format passt. Ich habe sie gebeten, die Figuren zurückzuschicken,
Janne meinte, das muss warten, „das stinkt sehr, da wird der Zoll
aufmerksam“. Seltsam natürlich. Ein paar Wochen später kam dann das
kleine Päckchen, das auch im Video zu sehen ist. Wir haben es tatsächlich
erst beim Videodreh geöffnet und staunten nicht schlecht. Beim
Schneiden hab ich mir dann alles durchgesehen und bin aus dem Lachen
nicht mehr herausgekommen. Wie gesagt, ein teures und verrücktes
Experiment, das tatsächlich gut gegangen ist. Das Video erzählt
praktisch seine eigene Entstehungsgeschichte auf überspitzte Art und
Weise. Ich habe das deshalb so genau erzählt, weil ich finde, dass die
Videogeschichte dafür steht, wie das Wesen der Band ist. So denken wir,
so arbeiten wir. So sind wir.
Die Resonanz auf die
Videos ist generell gut. Sie transportieren einfach die Musik. Ohne
Videos hätten wir deutlich weniger Hörer*innen. Auf den Absatz der
Alben macht sich das allerdings wenig bemerkbar. Wir verkaufen hauptsächlich
Alben bei unseren Konzerten.
Auf
den Alben findet man teils verklausulierte Texte die oft sehr poetisch,
intellektuell und von Wortspielereien durchzogen sind. Es sind aber fast
immer Geschichten aus dem Leben. Wie kommt ihr auf diese Themen?
Den meisten Menschen
sind Texte mal vorrangig egal. Das ist zumindest unsere Erfahrung. Uns
selbst sind sie wichtig. Und natürlich muss ich als Texter irgendwo
anknüpfen und das geht nun mal am Besten, wenn das eigene Leben und
Erleben der Bezugspunkt ist. Ab dann heben die Texte allerdings ab. Ich
mag es, wenn es im realen Leben einen Ausgangspunkt gibt, aber ich mag
es auch, wenn es dann eine andere poetische und oft genug absurde und
wunderliche Wirklichkeit gibt. Ein Protagonist, der immer wieder
vorkommt, ist Johnny, mein Song gewordener Stellvertreter quasi.
Ich habe mir angewöhnt,
meine Ideen aufzuschreiben. Ich habe ein „schlaues Buch“ dafür,
oder nehme mein Handy. Oft sind es nur einzelne Wörter, manchmal ganze
Sätze. Die stoßen dann eine Geschichte an. Grob gesagt: Der Kern ist
immer wahr, alles darum herum ist Fiktion. Das mag ich gerne und werde
es auch so beibehalten. Wenn es nur um mein Leben ginge, müsste ich
keine Songs schreiben, sondern würde ein Tagebuch schreiben. Es braucht
schon auch eine künstlerische Überhöhung, denke ich. Mittlerweile hab
ich schön öfter gehört, dass ich eine eigene Sprache in meinen Texten
gefunden habe. Das finde ich sehr schön, dass das für manche etwas
Eigenes und Unverwechselbares hat. Im Optimalfall folge ich beim Texte
schreiben meinem „Stream of Consciousness“, so wie das Kerouac bei
„On the Road“ gelang, oder Bob Dylan beim Verfassen seiner Texte.
Dieser Bewusstseinsstrom bringt Dinge hervor, die sich normalem
Nachdenken oder Brüten über einer Sache entziehen. So entstanden zum
Beispiel „Commander“, „Eskalation, bitte“ oder auch „Ich komme
von der Sonne.“ Oder einfacher gesagt: Wenns läuft, dann läufts.
Ihr
bezieht aber auch sehr deutlich Stellung in Songs wie „Sie sind nicht
mein Präsident“, bei dem Herr Trump sein Fett bekommt.
Es bekommen da viele ihr
Fett ab. Demagogen und Populisten gibt es ja zahlreich. Vorbild dafür
war die Bande um Kickls FPÖ, eine rechtsradikale österreichische
Partei. Aus unserer Sicht eine Partei der Neinsager und Krakeeler. Auslöser
war die Angst, dass der FPÖ-Kandidat bei der letzten Bundespräsidentenwahl
die meisten Stimmen bekommt. Die Wahl musste ja bekanntlich wiederholt
werden und wurde recht knapp entschieden. Das wäre nicht mein Präsident
gewesen. Aber natürlich braucht dieser Text wie andere auch etwas
Allgemeingültiges, um relevant zu bleiben. Ich befürchte ja, dass er
noch länger relevant sein wird.
Aber
auch sehr humorvolle Texte durchziehen eure Songs wie etwa in „Grüße
aus der Gruft“. Wieviel bedeutet euch Humor in die Songs mit
einzubinden?
Humor ist uns extrem
wichtig. Ich habe oben ja die Bruderschaft angesprochen. Das trifft es
ganz gut. Wir mögen uns und lachen auch viel. Und ich denke, dass man
vor allem auch in den Videos sieht, dass wir sehr uneitel sind und gerne
über uns selbst lachen. Das relativiert dann auch manchen ernsten Text.
In dem Song „Grüße aus der Gruft“ geht es um einen betrunkenen
Fahrer, der bei einem Unfall das Zeitliche segnet. Es singt also die
Leiche den Song. Und die Leiche hat offensichtlich nicht verstanden,
dass sie tot ist und meckert herum, dass es nur ein paar kleine Kratzer
sind und gar nicht so betrunken war. Ja, das hat schon was Absurdes und
Komisches. Aber im Refrain schwingt auch das Tragische und Fatalistische
mit. „Wie schnell die Party zu Ende geht“ heißt es da und wir
kennen wahrscheinlich alle einen lieben Menschen um uns, der zu früh
verstorben ist. Das ist bitter und dem stellen wir uns.
Wie
entstehen die Songs im Allgemeinen? Ist zuerst der Text oder ein Thema
da, oder kommt zunächst jemand mit einer musikalischen Idee, die dann
weiterentwickelt wird?
Es beginnt eigentlich
fast immer mit einer musikalischen Idee, die ich ausbrüte. Oft genug
singe ich einen Nonsens-Text darüber, der mal das Metrum und die Silben
definiert. Und schön langsam fülle ich das dann mit Text. Manchmal
geht das ganz schnell, an manchen Sachen feile ich ewig, manchmal sogar
Jahre. Das gilt sowohl für die Musik als auch den Text. Ich habe mir
angewöhnt, die musikalischen Einfälle mit der akustischen Gitarre auf
meinem Zoom-Gerät aufzunehmen. Das höre ich zwei- bis dreimal im Jahr
ab und arbeite dann Sachen aus. Auf meinem Handy halte ich Sätze fest,
die mir begegnen oder gerade durch den Kopf schießen. Auch da schaue
ich immer wieder mal rein und lasse mich inspirieren oder verwende etwas
davon. Letztens hatte ich ein musikalisches Thema und wusste nicht,
worum es gehen soll. Beim Durchscrollen meiner Notizen bin ich auf den
Eintrag „Muss das so laut sein“ gestoßen. Eine Frage, die ja
Tontechniker hinter dem Mischpult oft hören. Und da dachte ich mir,
„Das ist es, so heißt der neue Song“. Der Text schrieb sich danach
von allein. Aber ich habe natürlich keine Ahnung mehr, warum und wann
ich diesen Eintrag aufgeschrieben habe. Es steht da und wird zu etwas,
oder nicht.
In
den Songtexten kommt oft der Name Johnny vor wie zum Beispiel in den
Songs „Johnny bleib“, „Schüttel dein Ding“ oder „Johnny und
Clyde“ (letzteres ist ja ein gelungenes Wortspiel zu „Bonnie und
Clyde“). Welchen Bezug hat das zu deiner Person?
Natürlich steckt ganz
viel Johnny in mir, und ich stecke in Johnny. Johnny muss auch immer
wieder herhalten, wenn jemand in den Texten benannt wird. Aber ich bin
natürlich nicht Johnny. Johnny streift an mir an und ich bleibe haften
an ihm. Johnny kommt auf jedem Album drei bis viermal vor. Manchmal
schon im Titel, manchmal nur kurz erwähnt im Text. Johnny ist eine
Konstante im Love God Chaos-Universum und wahrscheinlich so universell
wir „John Doe“ wenn die Amerikaner eine Leiche benennen müssen.
Nach all den Jahren hat sich Johnny oft genug als draufgängerischer,
alberner und liebenswerter Macho-Schlawiner herausgestellt. Ich bin
nicht so, hoffe und denke ich. Aber ja, wenn ich auf mein jüngeres Ich
blicke, dann schüttle ich schon oft den Kopf und denke mir, dass das
typisch Johnny ist. So ist „Johnny bleib“ und „Du bist gut für
mein Karma“ entstanden. Johnny ist also auch der, den ich ganz gerne
hinter mir lasse. Wie schon oben gesagt. Es beginnt bei mir selbst, hebt
irgendwann ins Fantastische ab und muss auch etwas Allgemeingültiges
kriegen. Wenn es nur bei mir bliebe, brauchte ich für die Texte nicht
den Rock'n'Roll, sondern einen Beichtstuhl.
Mit
Songs wie „Du bist gut für mein Karma“, „Ich komme von der
Sonne“, „Eskalation, bitte“ und „Commander“ habt ihr einige
Songs mit Hitpotenzial im Repertoire. Seht ihr das genauso?
Wir spüren, dass wir
mit „Commander“ eine Art Signatur-Song veröffentlicht haben. Es ist
ein Lied über Emanzipation. Es geht darum, selbst Verantwortung über
sein Leben zu übernehmen und sich selbst in seiner Komplexität und
Widersprüchlichkeit, die uns allen eigen ist, zu akzeptieren. „Ich
komme von der Sonne“ ist ähnlich populär, aber die Liebe zu dem Song
ist letztlich genau so überraschend wie bei „Commander“. Es sind
immerhin unsere längsten und komplexesten Songs. Wir legen es nicht
darauf an, Hits zu schreiben. So etwas macht man, wenn man dringend
muss, oder noch sehr jung ist. Es interessiert uns nicht. Wir legen es
darauf an, uns selbst möglichst nahe zu kommen. Dann wird das Ergebnis
meistens gut. Darum geht es uns. Vielleicht ist das auch spürbar. Aber
von einem wirklichen Hit sind wir natürlich meilenweit entfernt. Weil
du es erwähnt hast: „Du bist gut für mein Karma“ ist - denke ich -
griffig und nachvollziehbar und „Eskalation, bitte“ ist eine Art
Glaubensbekenntnis für uns. So sehen wir uns, das ist quasi unser
Dogma.
Live beim
Artrockfestival in Reichenbach (16.04.2023)
Wie
erfolgreich seid ihr in eurem Heimatland bzw. im deutschsprachigen Raum?
Ich muss gestehen, dass ihr mir vor eurem Auftritt unbekannt wart und
ich doch sehr positiv überrascht war.
Uns kennt keine Sau, da
gibt es nichts zu beschönigen. Unsere Videos haben allerdings ganz gute
Zugriffe. Für uns ist ein Song erst mit einem Video vollständig
abgeschlossen und auf jeder Ebene auserzählt, deshalb machen wir das
gerne. Wir hätten nur mit CD-Verkäufen oder Spotify-Streamingzahlen
niemals die Reichweite, die wir haben, wenn wir ein Video zu einem Song
machen. Aber wie gesagt: Für das Formatradio sind wir nicht geeignet,
wir erkämpfen uns quasi jeden einzelnen Zuhörer und jede einzelne Zuhörerin.
Wenn man sich uns einmal genähert hat, folgt man uns allerdings auch
gerne.
Wie
sehen eure Zukunftspläne aus? Seid ihr schon wieder dabei ein neues
Album einzuspielen?
Wir werden Ende Januar
mit den Aufnahmen für das fünfte Album „Augendisko“ beginnen. Bei
uns laufen viele Dinge parallel ab. Wir drehen noch Videos für Songs
der Alben zwei und drei, promoten nach wie vor das Album vier, nehmen
bald Album fünf auf und ich schreibe erste Songs für das Album sechs.
Wichtig für uns ist, dass wir unseren Wagen in Bewegung halten. Solange
er sich bewegt, braucht es nur ein paar Schubser, damit es weitergeht,
aber wehe, wenn er still steht. Das erforderte deutlich mehr Mühen, ihn
wieder in Gang zu setzen. Deshalb sind wir in einem permanenten
Schaffensmodus und die einzelnen Alben, Promotiontätigkeiten und Videos
verzahnen sich. Wir würden gerne mehr Live spielen, keine Frage. Also
meldet euch gerne, wenn es einen Klub bei euch in der Nähe gibt, wir
kommen!
Auf unser nächstes
Album freuen wir uns. Wir werden Dinge, die sich bewährt haben,
beibehalten. Es wird wieder ein Duett geben, wir laden musikalische Gäste
ein und arbeiten auch wieder mit dem Prager Streichorchester. Aber es
wird auch für uns neue Wege geben auf dem nächsten Album. Auch hier
gibt es Bewegung und neue Entwicklungen. Ein langer Song, ein
„Monster“ wie wir das gerne nennen, wird wieder dabei sein. Dann
werden wir wohl auch unserem Ruf als Artrock-Band wieder gerecht. Spätestens
2025 soll es fertig sein. Und wenn wir Glück haben, dürfen wir
vielleicht sogar wieder beim Art-Rock-Festival in Reichenbach spielen.
Vielen
Dank, dass du mir meine Fragen so ausführlich beantwortet hast.
Danke für die Einladung
und liebe Grüße aus Graz!
Stephan Schelle
|