Nach sieben Jahren gehen Anathema
wieder mit neuem Material auf Tour. Das Album „We Are Here Because We
Are Here“ stellt die Band gerade im Rahmen einer kleinen Promo-Tour vor.
Hubertus Becker hatte vor dem Konzert in Köln die Gelegenheit, mit
Bandleader Vincent Cavanagh über das Album und die Band zu reden.
Hubertus:
Zuerst einmal Glückwunsch zum neuen Album, ich muss sagen, ich finde es
echt fantastisch und hoffe, dass ihr damit richtig erfolgreich sein
werdet.
Vincent:
Ja, das hoffe ich auch. Auf
dieser ersten kleinen Promo-Tour hatten wir bisher wirklich ein tolles
Feedback, auch wenn die Interviewnachfragen geringer ausfielen als wir
uns das gewünscht haben. Aber letztlich ist das für uns die Gelegenheit
uns richtig aufzuwärmen für die große Tour im Herbst. Im Oktober werden
wir dann viele Auftritte in Deutschland haben. Und auf dem Summer Breeze
Festival spielen wir ja auch noch. Heute sind wir also unterwegs, um zu
sagen: „Hey, wir wollten euch dran erinnern, dass wir wieder da sind!“
Hubertus:
Daran möchte ich gleich anschließen. Das neue Album ist jetzt endlich
erschienen und eine neue Tour steht an. Aber ihr wart auch irgendwie in
der ganzen Zeit ohne neues Album nie richtig weg, wart immer unterwegs.
Ist das jetzt mit „We’re Here…“ ein anderes Gefühl unterwegs zu sein?
Vincent:
Klar, das ist definitiv so.
Die neuen Songs machen
einfach alles besser. Du musst
daran denken: Der Grund, warum wir das Ganze machen, ist natürlich, um
live zu spielen. Und das ist heutzutage genauso wichtig wie es immer
war. Das Songwriting ist eine völlig andere Geschichte und live zu
spielen ist überhaupt der Hauptgrund, warum du in einer Band spielst.
Außerdem ist es die einzige Möglichkeit für mich, unsere Musik auch mal
zu hören! Natürlich habe ich sie im Studio bestimmt tausend mal gehört,
aber wenn alles vollendet ist, höre ich sie nicht mehr. Bob Dylan ist da
genau so drauf wie ich. Er hat einmal diesen tollen Satz gesagt: „Eine
Platte anzuhören, die du bereits gemacht hast, ist so als würdest du in
einen Spiegel schauen und dein Spiegelbild ist erstarrt.”
Hubertus:
Warum hat es eigentlich so lange gedauert, bis ihr wieder einen neuen
Vertrag hattet? Ich meine, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass
eine Band wie ihr ohne Vertrag da steht.
Vincent:
Geld! Ich meine, wir haben nicht nach einem neuen Vertrag gesucht, wir
wollten einfach die Karten neu mischen. Und speziell nachdem wir die
Implosion der Musikindustrie mit angesehen haben und ihren Neustart,
wollten wir dieses Mal die Rahmenbedingungen selbst bestimmen. Wir
wollten also nicht den üblichen Vertrag schließen und daher hat es
dieses Mal halt ein wenig länger gedauert. Denn ohne den finanziellen
Hintergrund einer Plattenfirma musst du das Album selbst aufnehmen. Wir
hatten einfach nicht das Geld und die Ausrüstung. Aus diesem Grund hat
es eben so lange gedauert, das neue Studio aufzubauen. Aber jetzt haben
wir es und können weitermachen – schneller als bisher!
Hubertus:
Die nächste Frage ist eigentlich für Danny (Cavanagh), aber vielleicht
kannst du sie mir ja auch beantworten. Danny hat auf kscope etwas über
das neue Album erzählt. Auch darüber, dass du 2005 größere Änderungen an
deinem Leben vorgenommen hast. Könntest du das etwas genauer ausführen?
Vincent:
Ich habe das zwar nicht gesehen, aber es ist richtig. Dennoch: das ist
zu persönlich, tut mir leid! Ich bin schon verdammt stolz auf Danny. Er
hat sich tatsächlich stark verändert und ist jetzt viel stärker und
gesünder als ich ihn jemals gesehen habe (lacht), als er jemals war. Ich
wünsche ihm wirklich viel Glück!
Hubertus:
Tod und Sterben, Sterblichkeit war immer ein Thema auf euren Alben. Aber
während die alten Songs immer irgendwie einen negativen Beigeschmack
hatten, wendet sich das Blatt hier. Vor allem in dem Zwischenstück „Presence“
beschreibt ihr Tod als das Gegenteil von Geburt und nicht von Leben. Und
dass Leben unendlich sei. Das hat etwas von einem Kreislauf des Lebens.
Vincent:
Nein, es hat eigentlich nicht viel mit den konventionellen
Weisheitstheorien über das Leben zu tun. Das ist wieder was sehr
Persönliches, speziell für Danny. Das Ganze ist aus einem Gespräch mit
einem alten Kauz namens Stan Ambrose in Liverpool entstanden. Er ist ein
wundervoller Harfespieler und um die 80 Jahre alt. Auf BBC Merseyside
präsentiert Stan eine Folk-Radio-Show, die zugleich die am längsten
laufende BBC-Sendung überhaupt in Großbritannien ist. Und es ist
unheimlich faszinierend, mit ihm zu reden. Er ist sehr sanftmütig,
geistreich, intelligent und ich denke auch spirituell. Und alle jungen
Musiker in Liverpool kennen ihn und er ist fast so was wie ein Guru für
sie (lacht). Stan hat also mit Danny über ein persönliches spirituelles
Erlebnis gesprochen, das mit einem Buch zu tun hat, das er liest. Es ist
also eigentlich eine persönliche Angelegenheit von Stan. Und Danny
wiederum teilt einiges von dieser Philosophie.
Hubertus:
Weißt du zufällig den Titel des Buches oder den Autoren?
Vincent:
Der Titel fällt mir gerade nicht ein, aber das Buch stammt von Eckhart
Tolle, ich glaube einem Deutschen. Ich kenn mich da aber nicht so aus.
Die beiden hatten wohl ein faszinierendes Gespräch darüber. Das Thema
Tod jedenfalls hat mich immer verfolgt und fasziniert, praktisch jeden
Tag und ich kann gar nicht davon wegkommen. Ich sehe den Tod eher als
eine Art Ding, das Leben gibt. Denn egal welcher Glaubensrichtung du
angehörst oder wie deine religiöse oder philosophische Meinung aussieht:
Niemand kann mir 100%ig sagen, dass er ganz sicher sein kann, was
passiert. Und genau aus diesem Grund sage ich mir, ich muss das Beste
aus jeder einzelnen Sekunde, jedem Stück meines Lebens herausholen.
Natürlich ist es schwierig, immer nach dieser Maxime zu leben, aber das
hat eine Art von Lazarus-Effekt auf mich. Und davon bin ich geradezu
besessen und es ist alles, worüber ich schreibe.
Hubertus:
Danny sagt auch, die Texte seien sehr persönlich. Teilen die anderen
Bandmitglieder die Ansichten und Erlebnisse, die darin zum Ausdruck
kommen?
Vincent:
Klar, wir alle teilen bestimmte Erlebnisse und haben eine gemeinsame
Geschichte, schließlich sind wir zusammen aufgewachsen. Also würde ich
sagen, der Bezug ist offensichtlich. Natürlich ist es ein Unterschied,
wie jede einzelne Person auf die Situation reagiert. Jeder bringt
natürlich seine Persönlichkeit ein. Aber ich mag die Idee von einem
Geist des Zusammenseins. Das haben wir und das drückt sich auch in
unserer Musik aus. Wir sind tatsächlich tief verwurzelt im Leben des
jeweils anderen.
Hubertus:
Wo wir gerade über die Songs reden: ein Stück, „Get Off Get Out”, fällt
ein wenig aus der Rolle. Es hört sich für meinen Geschmack mehr nach
Porcupine Tree an. Hören wir hier den zukünftigen Anathema-Sound?
Vincent:
Nein, nein, du hörst hier einen Song, nur einen Song. Ich mag Porcupine
Tree, ich denke, sie sind eine hervorragende Band. Ich habe sie einige
Male live gesehen und sie sind wirklich fantastisch. Nur wir hören uns
ihre Musik nicht an, kommen einfach nicht dazu. So geht es John
(Douglas) übrigens auch. John hat „Get Off Get Out“ geschrieben. Ich sag
dir mal, was „Get Off Get Out“ ursprünglich mal werden sollte. Es sollte
eigentlich ein Drum and Bass Song werden mit Synths und elektronischen
Spielereien. Und dann kam Danny daher und hat die Gitarre dazu
geschrieben und am Ende kam ein Gitarren-Song raus. Vielleicht denken
die Leute deswegen, dass es sich wie PT anhört. Wenn jemand Lust hat da
einen echten Drum and Bass Remix raus zu machen, soll er uns
kontaktieren, das Material stellen wir zur Verfügung.
Hubertus:
Ich dachte zuerst, der Song sei vielleicht eine Art Widmung an Steven
Wilson?
Vincent:
Warum sollten wir das tun?
Hubertus:
Nun, Steven hat das Album gemixt, ihr wart lange auf Tour mit PT.
Vincent:
Ja, aber nochmal: warum sollten wir das tun (ein wenig ungehalten)?
Hubertus:
Nun das war mein erster Eindruck…
Vincent:
…dann musst du dir klar machen, von wem das Stück kommt. Wir würden
niemals einen Song als Widmung an jemand anderen schreiben. Ebenso wenig
würden wir einen Cover Song aufnehmen. Nein, das hier sind wir. Unsere
Leben, unsere Musik, hier stecken unsere Gedanken, Herzen, Seelen drin.
Und niemand sonst.
Hubertus:
Na gut! Kannst du ein wenig über das tolle Artwork sagen?
Vincent:
Alle Fotos sind da aufgenommen worden, wo wir aufgewachsen sind. (Zeigt
auf das zweite Foto im Booklet) Das hier ist zum Beispiel meine Junior
School. Und das hier (drittes Foto) zeigt das Fenster, hinter dem Danny
mit seinem Direktor gesprochen hat, als er mal echt in Schwierigkeiten
war. Der Direktor fragte ihn: „Was willst du mal mit deinem Leben
anfangen?“ Und Danny antwortete: „Ich will Musiker werden!“ „Dann raus
mit dir!“(lacht wieder) Das heißt also auch, das Artwork ist sehr
persönlich.
Hubertus:
Zum Schluss noch eine Frage: Müssen wir wieder sieben Jahre auf ein
neues Anathema-Album warten?
Vincent:
Ja (lacht), …nein, natürlich nicht. Wie ich schon sagte, hat es lange
gedauert, bis wir unser Studio aufgebaut haben. Und jetzt haben wir es
und arbeiten bereits wieder an neuen Sachen. Na, eigentlich hört die
Arbeit nie richtig auf. Wir schreiben immer irgendwas, einiges ist Müll,
bei anderen Sachen sagen wir: Das hört sich gut an, mal sehen, ob was
draus wird. Und da wir sieben Jahre gewartet haben, kannst du dir ja
vorstellen, was da alles so anfällt: wir haben sicher noch so ca. 60
Ideen, so dass wir die Alben jetzt schnell hintereinander raushauen
können (lacht). Aber im Ernst: vertraglich sind wir dazu verpflichtet,
18 Monate mit dem nächsten Album zu warten. Hört sich doch auch gut an,
oder?
Hubertus:
Das sind wirklich gute Neuigkeiten!
Vincent:
Und ich hoffe, du magst die neuen Sachen. Wir gehen nämlich weiter in
diese Richtung. Wir werden noch mehr Streicher einsetzen und auch
Elektronik.
Hubertus:
Mehr Streicher hört sich gut an! Das Problem ist nur, dass ihr schlecht
mit einem Orchester auf Tour gehen könnt.
Vincent:
Oh ja, das ist wirklich ein Problem! Jedenfalls so lange wie wir keine
Abermillionen Alben verkaufen. Dann könnten wir uns diesen Luxus
erlauben.
Hubertus:
Das wollen wir dann mal hoffen! Danke für das Interview!
Vincent:
Danke dir auch!
Hubertus Becker,
Juni 2010