Martin Eden - Sol
Eigenproduktion (2022)

(4 Stücke, 42:48 Minuten Spielzeit)

Martin Eden sollten die Progfans in Deutschland kennen, denn er ist der Sänger der aus Neuss stammenden Band Chandelier. Die Band hatte zwischen 1992 und 1997 drei viel beachtete Alben veröffentlicht und sich 2019 wieder vereint, was unter anderem zu einem gefeierten Livegig beim Night Of The Prog führte. Im September 2022 veröffentlicht Martin Eden nun ein Soloalbum unter dem Titel „Sol“.


Das Album, das vier Stücke mit Laufzeiten von 3:17 bis 19:58 Minuten Spielzeit bietet, erscheint in einem Papersleeve. Die Vorderseite ziert das surrealistische Gemälde „Rauchende Giraffen surfen auf schmelzenden Eisbären II“ des Künstlers Ingo Steinhäußer.

Loops sind sicherlich bekannt aus der HipHop-Welt oder von Ed Sheeran. Aber Prog-Loops? Laut Martin Eden handelt es sich bei seinen Prog-Loops um sich stetig wiederholende, elektronisch erzeugte Bausteine (Loops), die vom Klang und vom Feeling her jedoch aus der Progwelt stammen.

Ebenso ungewöhnlich wie der musikalische Aufbau ist die Produktion von „Sol“. Abgesehen von Gesang sind nur zwei Klangquellen zum Einsatz gekommen, die genau genommen noch nicht einmal Instrumente, sondern Midi-Controller sind. Das „Roli Lightpad“ und das „Joué Play“ sehen tatsächlich eher aus wie Kinderspielzeug, überzeugen jedoch mit einer Atem beraubenden Klangvielfalt und Intensität.

Martin Eden sagt dazu: Nun, ich hatte mir vor einem guten Jahr zwei neue Instrumente zugelegt. Genauer gesagt, sind es sogar nur Midi-Controller, die obendrein aussehen wie Kinderspielzeug. Aber egal, man kann mit ihnen musizieren, und das tat ich dann auch. Mir kamen dadurch schnell musikalische Ideen, die mir sehr gut gefielen und die meiner Hoffnung nach auch anderen gefallen könnten. Allerdings waren das größtenteils Ideen, die nicht so gut zum Chandelier-Stil passen, also hab ich mir gedacht, dies wäre eine hervorragende Möglichkeit für ein Solo-Projekt.

Insgesamt zeigt sich das Album aber sehr elektronisch. So finden sich im Opener, dem fast 20minütgen „Mary“, über weite Strecken Mellotronsounds. Zunächst eröffnet jedoch eine recht ruhige und einfach klingende Melodielinie, die nach wenigen Momenten in avantgardistische, Klangskulpturen wechselt, die wiederum in eine ungewöhnliche, eingängige, asiatisch angehauchte Melodie führt. Nach etwa anderthalb Minuten kommt dann eine sanfte Klaviermelodie auf, zu der Martin dann singt. Da kommt - schon allein durch Martin’s markante Stimme - Chandelier-Feeling mit einem Schuss Peter Gabriel auf. Ein wundervoller Part, der unter die Haut geht. Das geht dann bis zu Minute Vier. Ab dann sind es elektronische Klänge, die zunächst surreal wirken, dann aber ab Minute Fünf in herrliche, flächige Mellotron-Harmonien übergehen. Langsam schweben die Flächen durch den Raum und werden von einigen Harmoniebögen umspannt. Das ist wunderbare sphärische Musik um Abzuschalten und die Gedanken fliegen zu lassen. Ein Fest für jeden Elektronikfan. In der letzten Minute des Stückes kommt dann wieder - ähnlich wie zu Beginn - eine einfache, aber sehr schöne Melodiefolge auf.

Mit 3:29 Minuten Spielzeit ist „Consensus“ das kürzeste Stück des Albums. Das fängt zunächst recht konfus an und wirkt recht unstrukturiert, wechselt aber nach anderthalb Minuten in einen rhythmischen, ambienten Part. Martin dazu: „Consensus“, der zweite Song des Albums, beginnt mit einem verstörenden, scheinbar unstrukturierten Klaviergewitter, das von einem harmonisch-geheimnisvollen Keyboard-Part abgelöst wird, der nahtlos in den „Birdy“-Soundtrack von Peter Gabriel gepasst hätte. Im abschließenden dritten Part werden diese beiden äußerst unterschiedlichen Teile musikalisch auf einer gemeinsamen Ebene zusammengeführt, also eine Art von Konsens gebildet. Wer Soli liebt, die die Schmerzgrenze antriggern, sollte hier tiefsten Genuss verspüren. Ein ausgeprägter Prog-Ausritt über gerade einmal dreieinhalb Minuten!

Der zweite Longtrack des Albums ist das 11:47minütige „Le pays de la paix“ (Das Land des Friedens). Hier singt Martin auf Französisch. Martin hat hier die Sounds wie bei einer Band zusammengestellt. Da hört man bassartige Klänge neben Schlagzeug (Becken) und Keyboards, auf denen er die Melodie spielt. Hier wandelt Martin zwischen Chanson, Prog und Elektronik. Sehr schön sind die flirrenden, harmonischen Keyboardsounds, die besondere Akzente im Song setzen. Martin setzt hier - wie auch bei den anderen Stücken - immer wieder neue Klänge ein, die auf unwiderstehliche Melodien/Harmonien treffen und die seine Musik besonders macht.

Mit dem 7:36minütigen „De zachtmoedigheid van de tovenaar“ (Die Sanftmut des Zauberers) endet dann das Album. Schwebende Flächen, die an die „Berliner Schule“ und an Soundtracks erinnern, eröffnen dieses Stück. Dann kommen nach wenigen Momenten neue Klänge auf, die sehr hymnisch und später gar leicht sakral wirken. Martin wechselt in diesem Stück die Stimmungslagen.

Das erste Soloalbum des Chandelier-Sängers Martin Eden ist ein sehr elektronisches geworden. Martin zaubert mit den beiden „Kinderspielzeugen“ wunderbare, atmosphärische Harmonien und Melodien, die er dann ein ums andere Mal mit avantgardistischen Effekten und Sounds durchbricht. Das macht die Musik aber hochgradig spannend. Wenn er dann zum Mikro greift kommt - aufgrund seiner markanten Stimme - Chandelier-Feeling auf. Ein klasse Album, das sowohl Prog- als auch Elektronikfans gefallen wird.

Stephan Schelle, September 2022

   

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