Jethro Tull – Thick As A Brick 2

Jethro Tull – Thick As A Brick 2
EMI / Chrysalis (2012)
(17 Stücke, 53:45 Minuten Spielzeit)

Die britische Band um ihren charismatischen Frontmann Ian Anderson hat die Fortsetzung eines ihrer wichtigsten Alben in Angriff genommen. Ende März 2012 erscheint „Thick As A Brick 2“, 40 Jahre nach dem ersten Teil. Zierte das Cover in 1972 noch eine Zeitung mit mehreren Seiten (es war damals schon beeindruckend, die LP-Hülle in den Händen zu halten), so geht Ian Anderson mit der Zeit und zeigt auf dem Cover nun die StCleve Chronicle in Form einer Internetseite.


Aus dem StCleve Chronicle ist nun die Internetpräsenz www.StCleve.com geworden. Das macht Sinn, denn die Medienlandschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten immens verändert. Als verbindende Komponente ziert das Cover unter anderem ein Bild vom jungen Gerald Bostock, einer fiktiven Figur, die im Mittelpunkt der Songtexte des 72’er Werkes stand. Es ist ein Bildausschnitt aus dem Frontfoto des 72’er Albums, das den achtjährigen Jungen zeigt, während er den ersten Preis für den Schriftstellerwettbewerb für die Altersklasse 7 bis 16 Jahre für seine Geschichte „Thick As A Brick“ bekommt. Auf dem neuen Werk ist Gerald bereits 50 Jahre alt und Ian stellt sich die Frage, was wohl aus dem Jungen von damals geworden ist.

Vierzig Jahre später: Was würde Gerald Bostock, der nun 50 Jahre alt wäre, heutzutage machen? Wie wäre es ihm in all der Zeit ergangen? Der „zweite“ Teil des Albumklassikers zieht die unterschiedlichsten Möglichkeiten in Betracht, was aus dem frühreifen Schuljungen Gerald Bostock hätte werden können, welche Wege er hätte einschlagen können. In den diversen Songs nimmt die Hauptfigur verschiedene Alter Egos an, um die Vielzahl der möglichen Wendungen zu verdeutlichen, die Schicksal und Zufall in einem Leben bereit halten. So illustrieren die Songs nicht nur Geralds Leben, sondern auch die Entwicklungen unserer eigenen Biographien, die nicht selten durch zufällige Begegnungen und Eingriffe völlig neue Wendungen annehmen, auch wenn sie manchmal zunächst noch ganz nichtig und unbedeutend erscheinen.

Ian Anderson über sein neues Album: „Wenn unsere Generation auf ihr Leben zurückblickt, überkommt sie sicherlich gelegentlich dieser ‘Was wäre wenn’-Moment. Wären wir, wie Gerald, statt dem, was wir sind, vielleicht Prediger, Soldat, Penner, Geschäftsinhaber oder Finanztycoon geworden? Und all jene, die der Generation des Internet und der sozialen Netzwerke angehören, mögen darüber sinnieren, was mit den unzähligen Möglichkeiten ist, die sich bei jeder Gelegenheit anzubieten scheinen.“

Es ist immer schwer ein herausragendes Album zu wiederholen. Jethro Tull waren mit ihrem 72’er Werk an die Spitze der Progressive Rockbands gestoßen, auch wenn Ian Anderson seine Musik nicht diesem Genre zuordnet. In der Folgezeit hat er sich dann auch mehr dem Rock mit Folkeinschlag gewidmet. Aber wie ist nun das Folgealbum, das nach 40 Jahren auf den Markt kommt? Soviel sei schon mal verraten, auch wenn es nicht ganz an das Meisterwerk heranreicht, haben Ian Anderson & Co. ein tolles Album zustande gebracht.

Bestand „Thick As A Brick“ aus zwei Longtracks, so zeigt schon die Titelliste des neuen Werkes, dass Ian etwas anders an die Sache herangegangen ist. Insgesamt sind 17 Stücke auf dem Silberling zu finden, die eine Mischung aus kurzen Brücken und richtigen Songs darstellen. Ian hat diese sehr geschickt miteinander verbunden, so dass schon eine gewisse Komplexität und ein Zusammenhang zu erkennen ist.

Musikalisch zeigen die Stücke auf dem Album eine ziemliche Bandbreite aus der Schaffensphase von Jethro Tull. Da finden sich Anleihen zum Album „Aqualung“ - man höre sich beispielsweise nur die Rhythmusgitarre in „Kismet In Suburbia“ an, die Erinnerungen an Tull’s größten Hit aufkommen lässt. Dann finden sich wiederum Passagen, die an „A Passion Play“ erinnern. Daneben treten Songs zu Tage, wie etwa „Banker Bets, Banker Wins“, die auch auf einem Album wie „Crest Of A Knave“ gepasst hätten. Und auch sehr Folklastige Stücke, bei denen beispielsweise Akkordeonklänge neben Ian’s Flötenspiel für diese Atmosphäre sorgen, sind auf dem Silberling enthalten. Das Ganze verbindet Ian dann sehr geschickt mit kurzen musikalischen Zitaten aus seinem 72’er Werk. So endet die Platte beispielsweise mit dem Text, der auch das Original beendete, nur das Ian noch ein „2“ hinten an den Text stellt. Damit ist ihm eine sehr gelungene Verbindung zum Meisterwerk geglückt.

„Thick As A Brick 2“ wird in drei Formaten erscheinen: als Standard-CD in einer Jewel-Box, als Digital Download und als Special Edition mit zwei Discs, sprich der CD sowie einer DVD mit einer 5.1 Stereo-Abmischung, einem 24-bit Stereo Mix, einem Video über die Entstehung des Albums („Making Of...“), Interviews mit den Musikern und Lesungen der Songtexte von Ian Anderson an verschiedenen Orten.

Ian Anderson zeigt mit seinem neuen Album, das er auch ohne seinen langjährigen Partner Martin Barre noch in der Lage ist, eindrucksvolle Songs zu schreiben. Für mich ist „Thick As A Brick 2“ das beste Album seit „Crest Of A Knave“, das ja auch schon 25 Jahre auf dem Buckel hat. Mein Fazit lautet daher, Ian Anderson ist es gelungen einen würdigen Nachfolger seines vor 40 Jahren bahnbrechenden Werkes zu veröffentlichen. Ein Muss für jeden Tull-Fan.

Nachtrag: Gerade bekomme ich die CD/DVD-Version auf den Tisch, die ich mir zusätzlich bestellt hab und muss sagen, dass hier ein Meisterwerk abgeliefert wurde. Dieser Version mit ihrem 5.1 Surroundsound ist auf jeden Fall der Vorzug einzuräumen. Unglaublich plastisch und transparent ist der Sound in diesem Mix, das es mir fast die Sprache verschlägt und sich eine Gänsehaut nach der nächsten einstellt. Selten habe ich einen so gelungenen Surround-Mix gehört. Dazu werden auch noch die Textpassagen, die gerade anstehen, auf dem Bildschirm eingeblendet. Auch enthält die DVD Interviews, einen Studioreport und - ganz witzig - die vorgetragenen Texte von Ian Anderson (ohne Musik). Darüber hinaus liegen auch noch in sechs Sprachen übersetzte Texte als pdf-Format vor. Mehr kann man eigentlich nicht erwarten. Höchste Empfehlungsstufe.

Stephan Schelle, März 2012

   

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