Gabriel Le Mar – Berlin Guitar
 

Gabriel Le Mar – Berlin Guitar
Bandcamp / Carpe Sonum (2021)

(
12 Stücke, 76:24 Minuten Spielzeit)

Der in Berlin in den 70’er Jahren aufgewachsene und seit den 90'ern in Frankfurt beheimatete Musikproduzent Gabriel Le Mar arbeitete in der Vergangenheit mit zahlreichen bekannten Szenegrößen wie Saafi Brothers, Aural Float, Dr. Motte und Pete Namlook zusammen. Sein musikalisches Spektrum bewegt sich im Umfeld von experimenteller Electronica, Chillout und aktueller Clubmusik. Nach einer ganzen Reihe an Veröffentlichungen ist am 15.05.2021 sein neuestes Werk unter dem Titel „Berlin Guitar“ auf Bandcamp und am 11.06.2021 auf CD erschienen, das nicht nur Freunde der zuvor genannten Stilrichtungen begeistern wird.

 

 


Gabriel beschreibt auf Bandcamp seine neue Produktion wie folgt:

Ich habe meine alte Gitarre gefunden, die ich in meiner Berliner Zeit als Kind in den 70ern rauf und runter gespielt habe. Als junger Künstler in den 80ern, und als wir in den 90ern in die Studios zogen. Ich traf verschiedene Bands und Künstler und tat mich zusammen, um etwas zu starten. Die Revolution im Osten war gerade zu Ende. Wir tanzten zu Acid House und tauchten in die Neo-Hippie-Vibes ein, kamen gerade aus Goa/Indien zurück und das Wichtigste für uns war die Musik und das gemeinsame Erleben mit inspirierten Menschen. Die Musik hat uns an ganz besondere Orte geführt und wir haben unsere Ohren in dunklen Kellern riskiert.

Als ich wieder anfing, meine Berliner Gitarre zu spielen, hatte ich das Gefühl, zu diesen emotionalen Zuständen zurückzukehren und den Wunsch, ein Album mit der Gitarre zu produzieren, um diese besondere Energie einzufangen. Mir wurde klar, dass ich einen riesigen Berg von Erinnerungen mitgenommen hatte, um Berlin in einem neuen Prozess wiederzuentdecken. Musik aus dem Gedächtnis, das Experimentieren mit verschiedenen Methoden, um die Dinge auf eine andere Art und Weise herauszulassen, als ich es vorher getan habe, die Vergangenheit mit dem Hier und Jetzt zu verschmelzen. Ich flog meinen Ideen entgegen, beeinflusst von Post Punk, New Wave, Art- und Krautrock, Psychedelia, Post Disco und Techno.

Herausgekommen ist ein grandioses Werk, das Stile wie die von Manuel Göttsching aka Ashra aufnimmt, in neue Höhen transformiert und ihnen einen modernen Anstrich verleiht.

Das Album beginnt mit dem sechsminütigen Stück „Grunewald“. Das klingt als hätte Gabriel den Stil von Ash Ra (aka Manuel Göttsching) aufgenommen und ihn in einen modernen und fetten Beat gebettet. Dem folgt das fast siebenminütige Stück „Mitropa“, das klingt, wie eine moderne Fassung eines New Order Stückes, was vor allem an den Gitarrensounds liegt. Das Stück fegt einen wirklich weg.

Dann macht Gabriel mit dem dreiminütigen „Antipop“ recht rockig weiter, das er wiederum mit einem druckvollen Groove unterlegt hat. Erinnert erneut eine Spur an Manuel Göttsching aka Ash Ra.

Der 5:44minütige Track „SO36“ ist laut Gabriel eine Uptempo-Fusion von elektronischen Goth Acidhouse Psychedelia Elementen. Das achtminütige „Silly Love Song“ (nicht zu verwechseln mit dem Song „Silly Love Songs“ aus der Feder von Paul McCartney) ist ein atmosphärischer Rocktrack, der am Ende des Albums auch noch in einer ruhigeren Variante vorliegt.

„European Son“ (3:32 Minuten Spielzeit) ist eine Verbeugung vor Gabriel’s Lieblingsbands, der britischen New Wave Band Japan, die diesen Song im 1981 veröffentlichte. Gabriel Le Mar hat für sein neues Album eine Instrumentalversion davon eingespielt. War das Original rhythmisch in Form einer Dampflok angelegt, so zeigt sich Le Mar’s Version in D-Zug-Geschwindigkeit. Rhythmisch wirkt das wie eine Fahrt in einem Hochgeschwindigkeitszug mit leichtem Kraftwerk-Einschlag, ohne aber die Grundmelodie/-harmonie zu vernachlässigen. Eine klasse Version.

Das siebenminütige Stück „No Closing Time“ beginnt mit einem Rhythmus, der mich ein wenig an Donna Summer’s „I Feel Love“ erinnert, sich dann aber in einen pulsierenden Track transformiert. Diesen Nähmaschinenrhythmus hatte damals Eberhard Schöner für seinen Song „Why Don’t You Answer“ entwickelt, den Sting gesungen hat. Ein Tontechniker nahm ihn dann aber mit zu Giorgio Moroder, der ihn dann mit dem Donna Summer-Hit weltberühmt machte. Gabriel Le Mar macht hier aber sein ganz eigenes Ding und lässt ein hypnotisches Feuerwerk auf die Hörer los.

Gabriel Le Mar schreibt auf Bandcamp zu seinem Stück „Cosmic Ride“ (6:34 Minuten Spielzeit): Indietronic Acidhouse mit Swing und einem geschmeidig fließenden Fretless-Bass. Der Name ist eine Anspielung auf die deutschen Künstler der 70er Jahre, die den Begriff Krautrock nicht wirklich mochten und ihre Musik stattdessen lieber als Cosmic bezeichneten. Und in der Tat haben einige Sounds und die repetitiven Rhythmen etwas vom Krautrock der 70’er Jahre, während die Gitarre mich wieder an Manuel Göttsching erinnert, der in den 70’er viel beachtete Veröffentlichungen mit Ash Ra und Ash Ra Temple hatte.

Auch das Stück „Below The Surface“ zeigt sich mit Wurzeln im Krautrock, vermengt sich mit Indierock und wird von einem voluminösen Bassbeat bestimmt, der durch Mark und Bein geht. Sehr schöne, Hallverzierte Gitarrenmotive durchziehen dieses Stück, das eine hohe hypnotische Strahlkraft besitzt.

Wem bei dem Titel des achtminütigen Stückes, „Trippin’ With Ralf + Florian“, die „Düsseldorfer Schule“ in den Sinn kommt, der liegt nicht ganz falsch. Ralf Hütter und Florian Schneider-Esleben waren die beiden Köpfe bei Kraftwerk und veröffentlichten 1973 nach „Kraftwerk“ und „Kraftwerk 2“ das Album „Ralf & Florian“ als Duo. Gabriel dazu: Den Titel „Trippin’ With Ralf + Florian“ habe ich gewählt, weil etwas im Groove meines Stückes mich an die (Autobahn-) Monotonie erinnert, aber eben im „trippin“ Zustand und die Vorstellung, wie und was wohl Ralf + Florian auf Trip gemacht hätten, finde ich erheiternd und in diesem humorigen Sinne ist es gemeint (what if).. Gabriel Le Mar hat hier einige Rhythmen eingebaut, die leichten Kraftwerk-Einfluss besitzen, jedoch viel mehr im Indietronic Acidhouse verortet sind. Die atmosphärischen, teils funkigen Gitarrenlicks sorgen dabei wieder für krautig/hypnotische Momente. Ein Hammerteil.

Das 6:15minütige Stück „Cause We’re Lovers“ beschreibt Gabriel Le Mar: Acidtechno, der mit Elementen der 70er Jahre Psychedelia verschmilzt. Singende E-Gitarren verbinden sich mit einem hypnotisch pulsierenden Techno-Groove und 303-Baselines, die einen Hauch von Funk dazu liefern. Der Name des Titels ist ein kleiner (oder klarer) Verweis für Bowie Fans, denn es ist eine Zeile aus „Heroes“, das er in seiner Berliner Phase schrieb ;-) In meinem Track ist es musikalisch vielleicht eher die E-Gitarre, die ich mit dem E-bow spielte. Diesen E-bow sound hörte ich zuerst bei Bowie, aber nicht in „Heroes“, sondern vom sagenhaften Adrian Belew auf „Station To Station“ gespielt, in dem er die Gitarre wie eine Dampflock jaulen lässt, mit langen melodiösen Texturen und reichlich Effekten versehen. Der Track kommt in der Tat sehr rockig rüber.

Den Abschluss des Albums bildet dann „Silly Love Song (Beatless)“ in einer Länge von 7:11 Minuten, das insgesamt atmosphärischer angelegt ist und dem der technoartige Beat entzogen wurde. Der Track besitzt aber immer noch Drive. Das Bassmotiv erinnert mich dabei teilweise eine Spur an Passagen aus Grobschnitt’s „Solar Music“. Eine tolle Version.

Dem Berliner Gabriel Le Mar ist mit „Berlin Guitar“ ein herausragendes Album gelungen, in dem er den Spirit verschiedenster Stile aufnimmt und sie mit topmodernen Beats versieht. Seine Gitarre sorgt dabei für das besondere Flair. Die Stücke wirken bei aller Elektronik, alles andere als steril, vielmehr verbreiten sie ein positives und fröhliches Feeling, bei dem man sofort das Tanzbein schwingen will. Welch ein Glück, das Gabriel seine alte Gitarre wieder in die Hände gefallen ist. Der Suchtfaktor dieser Scheibe ist enorm.

Stephan Schelle, August 2021

 
   

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